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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mats Wahl
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Training.«
    »Nein«, sagte Mama. »Das musst du nicht! Erst erzählst du uns, was genau du gesehen hast!«
    Morgan seufzte. Er sah aus, als hätte er Magenschmerzen. Er hat eine Begabung, einfältig und unglücklich zugleich auszusehen.
    »Vielleicht war es auch nur ein Schatten«, behauptete er. »Ich kam vom Klo. Konnte nicht richtig sehen. Es ist ja nicht sicher, dass es eine Schlange war.«
    »Du konntest nicht richtig sehen?«, wiederholte Mama. »Deine Augen sind doch in Ordnung?«
    »Es wirkt sich auf die Sehnerven aus«, sagte ich. »Wenn man Verstopfung hat. Dann kann man nicht mehr richtig sehen. Da quillt einem die Scheiße aus den Augen.«
    Morgan machte einige Schritte auf mich zu und täuschte mit der Linken einen Haken vor. Aber ich hatte schon einen Schlag eingesteckt und wollte nicht noch einen, also wich ich ihm aus.
    »In meinem Haus wird sich nicht geprügelt!«, fauchte Mama. Ihr Wutpegelstand war inzwischen sehr hoch.
    »Das Training fängt an«, knurrte Morgan. »Ich muss los.«
    »Wird nicht leicht, Ball zu spielen, mit Scheiße in den Augen«, sagte ich.
    »Schwule Tunte«, schnaubte Morgan, kehrte uns den Rücken zu, ging zu seinem Fahrrad und klemmte die Trainingstasche auf den Gepäckträger.
    »Und was sollen wir jetzt machen?«, rief Mama ihm nach. »Sollen wir uns dicke Sachen anziehen und die Schlange suchen?«
    »War wohl nur ein Schatten!«, rief Morgan über die Schulter, stieg auf sein Fahrrad, verschwand durch die Pforte und war weg.
    Mama setzte sich auf einen der frisch geputzten Stühle, stand aber hastig wieder auf, weil die Sitzfläche noch feucht war.
    »Was machen wir denn jetzt?«
    »Er hat sich bestimmt getäuscht«, behauptete ich. »Ich kann das Haus ja mal durchsuchen. Wenn es eine Schlange gibt, finde ich sie. Auf Möbel kann die nicht klettern. Wenn sie im Haus ist, kriecht sie auf dem Fußboden herum.«
    Mama lächelte. Sie hat ein hübsches Lächeln und warme Augen, wenn sie froh ist.
    Ich ging hinauf in die Abseite und zog die unterste Kommodenschublade einen Spalt breit auf. Zuerst sah ich sie nicht, aber als ich die Schublade noch etwas weiter aufzog, entdeckte ich sie. Sie hatte sich in der hinteren linken Ecke zusammengerollt und lag ganz still. Dann hob sie den Kopf ein wenig und begann zu züngeln, wie Morgan züngelt, wenn er erregt ist und irgendwas Gemeines sagen will.
    Ich schob die Schublade wieder bis auf einen Millimeter zu, ging in die Küche und nahm mir eine Kaffeetasse. Als ich mit der Tasse in der Hand dastand und den Wasserhahn aufdrehen wollte, bemerkte ich die Katze. Sie hatte auf die Decke gekotzt, und es roch ein bisschen säuerlich.
    Ich füllte die Tasse halb mit Wasser, trug sie nach oben und stellte sie in die rechte hintere Ecke der Schublade. Dann ging ich zu meinem Bett und streckte mich aus.
    An der Wand hing van Gogh mit seinem bandagierten Ohr und sah nachdenklich aus.
    Ich befühlte mein eigenes Ohr. Der Mensch hat viel mehr Blut, als man normalerweise annimmt. Das habe ich im Frühjahr im Biologieunterricht gelernt. Anhand des Körpergewichts kann man in etwa ausrechnen, wie viel. Ich hätte gern gewusst, wie viel Blut ich hatte, aber ich hatte vergessen, wie man es errechnet.
    Ich holte meinen iPod hervor und setzte mir die Kopfhörer auf. Sie sind von allerbester Qualität, weil ich es hasse, wenn Musik kratzig klingt.
    Seltsamerweise war ein Song hinzugekommen, den ich nochnie gehört hatte. Er klang wie eine Art Zischen, als wäre die Schlange in die Kopfhörer geschlüpft, und jetzt saß sie da drinnen und zischte mit ihrer gespaltenen Zunge.
    Nach einer Weile ging ich wieder auf den Hof. Mama saß auf einem der vier Stühle unter der riesigen Eiche.
    »Ich hab überall nachgeguckt«, behauptete ich. »Im Haus ist keine Schlange. Wenn eine da wäre, hätte ich sie gefunden.«
    »Du bist lieb, Tom«, sagte Mama. »Was sollte ich ohne dich machen? Könntest du bitte den Grill holen und ihn anschmeißen? Im Auto sind ein Beutel Holzkohle und Schnellanzünder.«
    Ich stellte den Grill unter der Eiche auf und holte Grillkohle und Anzünder aus dem Auto, häufte Kohle im Grill an und entzündete sie.
    »Ich habe T-Bone-Steaks gekauft«, sagte Mama. »Wo ist Annie?«
    »Keine Ahnung.«
    Ich ging zum Boot hinunter, nahm den Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete das Hängeschloss. Die Kette war vier Meter lang. Sie war durch eine vernickelte Metallöse am Bug des Bootes gezogen, um einen Erlenstamm gewickelt und dort

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