Du oder das ganze Leben
heiße Shelley«, fährt der Sprachcomputer fort.
Alex kniet sich hin, damit er auf Shelleys Augenhöhe ist. Diese schlichte Art, ihr Respekt zu zollen, berührt mich an einer Stelle, die sich verdächtig nach meinem Herzen anfühlt. Colin ignoriert meine Schwester immer. Er behandelt sie, als sei sie nicht nur körperlich und geistig zurückgeblieben, sondern noch dazu blind und taub.
»Wie geht’s?«, fragt Alex. Er nimmt Shelleys Hand in seine und schüttelt sie. »Cooler Computer.«
»Das ist ein Sprachcomputer«, erkläre ich ihm. »Er hilft ihr zu kommunizieren.«
»Spiel«, sagt die Computerstimme.
Alex hockt sich neben Shelley. Ich halte vor Schreck den Atem an, doch dann sehe ich, dass ihre Hände nicht in die Nähe seines dichten Haarschopfes kommen.
»Du hast Spiele hier drauf?«, fragt er.
»Ja«, erwidere ich an ihrer Stelle. »Sie ist zu einem Dame-Freak geworden. Shelley, zeig ihm, wie es funktioniert.«
Alex sieht aufmerksam zu, während Shelley konzentriert den Bildschirm mit ihren Knöcheln berührt. Es scheint ihn zu faszinieren.
Als das Spielbrett auf dem Bildschirm erscheint, stupst Shelley Alex’ Hand an.
»Du zuerst«, sagt er.
Sie schüttelt ihren Kopf.
»Sie möchte, dass du zuerst ziehst«, sage ich zu ihm.
»Cool.« Er berührt den Bildschirm.
Ich sehe den beiden zu und schmelze dahin wie Vanilleeis in der heißen Julisonne, weil dieser toughe Kerl so geduldig mit meiner Schwester spielt.
»Macht es dir was aus, wenn ich euch kurz allein lasse, um
Shelley einen Snack zu holen?«, frage ich. Ich muss unbedingt hier weg.
»Nö, mach ruhig«, sagt er ohne aufzuschauen. Er konzentriert sich voll und ganz auf das Spiel.
»Du brauchst sie nicht gewinnen zu lassen«, sage ich noch, bevor ich aus dem Zimmer gehe. »Sie ist ziemlich gut darin.«
»Oh, danke für die Lorbeeren, aber ich versuche hier gerade zu gewinnen«, erwidert Alex. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht wirkt echt, er markierte zur Abwechslung einmal nicht den coolen Großkotz. Was mein Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen, nur noch vergrößert.
Als ich ein paar Minuten später mit Shelleys Essen zurück in die Bibliothek komme, sagt er: »Sie hat mich geschlagen.«
»Ich hab dir ja gleich gesagt, dass sie gut ist. Aber jetzt ist erst mal Schluss mit Spielen«, sage ich zu Shelley und an Alex gewandt: »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich ihr beim Essen helfe.«
»Na, dann mal los.«
Er setzt sich in den ledernen Lieblingssessel meines Vaters, während ich ein Tablett vor Shelley abstelle und beginne, sie mit Apfelmus zu füttern. Wie üblich ist es eine Riesensauerei. Ich drehe den Kopf leicht zur Seite und ertappe Alex dabei, dass er mich beobachtet, wie ich den Mund meiner Schwester mit einem Handtuch abwische.
»Shelley«, sage ich, »du hättest ihn gewinnen lassen sollen. Du weißt schon, aus Höflichkeit.« Shelleys Antwort ist ein Kopfschütteln. Apfelmus tropft auf ihr Kinn. »So ist das also, hm?«, sage ich und bete innerlich, dass Alex den Anblick nicht abstoßend findet. Vielleicht teste ich ihn aber auch nur, um festzustellen, ob Alex einen Blick auf mein wahres Leben verkraftet. Falls es so ist, hat er ihn bestanden. »Warte nur, bis Alex weg ist. Dann zeig ich dir, wer die wahre Großmeisterin des Brettspiels ist.«
Meine Schwester lächelt ihr unwiderstehliches, schiefes Lächeln. Es sagt mehr als tausend Worte. Einen Moment lang vergesse ich, dass Alex mich immer noch beobachtet. Es ist so seltsam, ihn in meinem Leben und meinem Haus zu haben. Er gehört nicht hierhin, aber das scheint ihm nichts auszumachen.
»Warum hattest du in Chemie so miese Laune?«, fragt er mich.
Weil meine Schwester abgeschoben werden soll und ich gestern oben ohne erwischt worden bin, während Colin mit heruntergelassener Hose vor mir stand. »Du hast doch bestimmt die Gerüchte gehört.«
»Keine Ahnung, wovon du redest. Vielleicht bist du bloß paranoid.«
Vielleicht. Shane hat uns zwar gesehen, aber er ist dafür bekannt, dass er viel erzählt, wenn der Tag lang ist. Trotzdem, jedes Mal, wenn mich heute einer angesehen hat, habe ich mir vorgestellt, er wüsste es. Ich schaue Alex an. »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte den Tag noch einmal von vorn beginnen.«
»Manchmal wünsche ich mir, ich könnte ganze Jahre noch einmal leben«, erwidert er vollkommen ernst. »Oder ein paar Tage vorspulen.«
»Blöderweise gibt es für das Leben keine Fernbedienung.« Als Shelley mit Essen fertig
Weitere Kostenlose Bücher