Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du sollst eventuell nicht töten - eine rabenschwarze Komödie

Du sollst eventuell nicht töten - eine rabenschwarze Komödie

Titel: Du sollst eventuell nicht töten - eine rabenschwarze Komödie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
irgendetwas Antikes herausgeputzt. Katharina und Laura trugen lange weiße Herrenhemden, offenbar dem langen Bruder aus dem Schrank gestohlen; darüber hatten sie einer Toga gleich Bettlaken drapiert, und ihre Füße steckten in Sandalen. Und Marvie – Marvie – Marvie!!! Drei Ausrufezeichen reichen nicht, um das sehr kurze weiße Leibchen zu beschreiben, dessen Auslassungen an Bein und Busen nur halbherzig von einer sehr großen geklöppelten Tischdecke verborgen wurden und eigentlich durch die unregelmäßige Löchrigkeit des Materials um so schärfer und heißer hervortraten. Dazu trug sie weiße Turnschuhe mit kleinen Enten darauf. Ob sie wusste, was sie da gerade anrichtete? Ob sie überhaupt wusste, wie sie wirkte? Ich nehme doch mal an, dass dies zu den ersten Lektionen an einer Schauspielschule gehört: Die eigene Wirkung. Marvie musste also zumindest AH-NEN, dass sie unsere Gekröse auf hundertachtzig brachte!
    Ich wagte nicht, Cromwell anzusehn. Ich KONNTE Cromwell gar nicht ansehen, da sich meine Blicke in Marvies Körper eingehakt hatten wie ein Bersteiger im Zweitausender. Ich musste alle Kraft zusammennehmen, um a)
meinen Blick mit einem Ruck auf die bunten Limonaden zu lenken und b) einen möglichst unverfänglichen, ja unschuldigen Ausdruck auf mein garantiert lechzendes Gesicht zu stemmen.
    Zur Entschärfung meines libidinösen Zustandes begann ich damit, Mendelssohn die Kostümierung der Schwestern zu beschreiben. Cromwell nutzte die Zeit für Komplimente: »Hinreißend! Das solltet ihr IMMER tragen! So eine Grazie und Anmut! Und Marvie: Was für niedliche Enten auf deinen Schuhen! Was für ein spielerischer Kontrast zu dem eleganten Faltenwurf darüber!« Und schamlos bohrte er seine Stielaugen in das löchrige Klöppelwerk. Die Mädchen lächelten erfreut und angetan. Ich musste ihn sofort stoppen! »He, Messdiener! Schenk′ er mir ein Glas Frosch-Pipi ein! Aber dalli!« Cromwell sah mich an, als würde ich in fremden Zungen sprechen und meinte dann trocken: »Hochwürden ist wohl zu heiß unter der Kutte?«
    »Frecher Bengel! Nimm dies!« Ich fuhr von meiner Liege auf, griff nach meinem Bischofsstab und jagte Cromwell damit um den Platz.
     
    D ieses Glücksgefühl, das nicht nur auf mich beschränkt zu sein schien, sondern geradezu kollektiv wirkte: die Geschwister in ihren Verkleidungen, ihre Freude an kindlichem Schabernack, plus uns Dreien, in unserer Narrentracht plus übermütiger Feiertagsstimmung … Es fühlte sich an wie ein großer, harmonischer, Kobolz schießender Kindergeburtstag. Fernab von Mühen und Plagen, geborgen in einem urtümlichen Zustand von Vertrauen in das
Wahre, Schöne, Gute und Alberne. Besoffen ohne Alkohol, high ohne Droge, mit einem Wort: verzaubert.
    Außer Atem ließen wir uns wieder auf die Liegen fallen: »Das kostet dich zwanzigtausend Ave Maria!«, hechelte ich Cromwell entgegen. »Und außerdem darf ICH die nächste Fuhre in Thorstens Wagen platzieren!« Auf die fragenden Blicke der Geschwister hin begannen wir, unser Thorsten-Erziehungsprojekt zu schildern. Den Geschwistern leuchtete unser pädagogisches Experiment sofort ein, und auch sie würden da doch gerne einmal mitmischen. Mendelssohn sagte großzügig: »Jeder darf mal.« Laura wandte sich an Katharina: »Haben wir überhaupt eine Haftpflicht?« Katharina seufzte wie unter einer schweren Verwaltungslast: »Natürlich, mein Herz. Du glaubst doch nicht, dass ich euch unversichert durch die Welt gehen lasse!«
    Dies war der geeignete Moment, um mehr über Struktur und Organisation unserer Nachbarn zu erfahren. »Dann ist Katharina quasi euer Familienoberhaupt? Sie managt den Laden?«, fragte Mendelssohn. »Nur, so lange Pa weg ist«, sagte Ritchie.
    »Und weil sie die Älteste ist«, sagte Laura. Katharina sagte: »Danke. Danke, dass du mich fast jeden Tag daran erinnerst, du gefühlsrohes junges Ding!«
    »Stimmt ja gar nicht!«, sagte Marvie. »Du bist nicht alt! Du bist höchstens – also auf mich wirkst du, als wärst du … fünfunddreißig.«
    »Danke«, wiederholte Katharina spitz. »Danke, dass du dich um zwei Jahre vertan hast.«

    »Nach oben oder nach unten?«, fragte Laura.
    Nun legten alle ihre Geburtstagskarten auf den Tisch, Cromwell seine einundvierzig Jahre, Mendelssohn verschämt seinen bald Fünfzigsten, ich meinen Sechsundvierzigsten. Was das Alter der Geschwister anging, hatte ich mich sehr verschätzt. Katharina war mit ihren siebenunddreißig Jahren jünger als

Weitere Kostenlose Bücher