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Du sollst nicht hassen

Titel: Du sollst nicht hassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Izzeldin Abuelaish
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hatten besondere Kleidung, wir nicht. Niemand aus der Großfamilie kam, um mit uns die Feiertage zu begehen. Wenngleich wir unsere Mutter liebten, trübte dies unsere Kindheit.
    Das Camp im Gazastreifen war nicht weit von Houg entfernt, etwa zehn Kilometer. Unser vergangenes Leben und die Familiengeschichte lagen also nur eine paar Stunden Fußweg weit weg. Meine Familie hatte nicht viel mitgenommen, als sie 1948 aufbrach, weil sie überzeugt war, dass es nicht für lange wäre. Bis dahin war Gaza noch kein Flüchtlingscamp, sondern ein Platz, der dem palästinensischen Volk vorbehalten war, als der Staat Israel entstand. Aber Tag für Tag füllte es sich mit Menschen, die nirgends anders hinkonnten. 1949, als das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) in der Region etabliert wurde, stieg die Zahl der Exil-Palästinenser exponentiell an, da immer mehr Regionen Palästinas in den Besitz des neuen Staates Israel fielen. Schließlich richtete das Hilfswerk acht Flüchtlingscamps in Gaza ein, wovon Jabaliya das größte war. Es lag im nördlichen Teil des Gazastreifens und beherbergte nach dem Arabisch-Israelischen Krieg 35000 Flüchtlinge auf 1,4 Quadratkilometern. Heute leben mehr als 200000 Menschen im Camp von Jabaliya. Meine Eltern zogen von einer kleinen Hütte zur nächsten und glaubten immer noch, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie nach Hause zurückkehren würden. Doch langsam wurde aus der vorübergehenden Umsiedlung eine dauerhafte Realität, und Orte außerhalb der Camps, wie Jabaliya-Stadt und Gaza-Stadt, boomten. Selbst innerhalb des Camps wechselten Immobilien den Besitzer, Geschäfte kamen und gingen im Laufe der Zeit.
    Ich erinnere mich, wie mein Großvater väterlicherseits im Flüchtlingscamp Hof hielt. Wegen der Stellung, die er im Dorf Houg innegehabt hatte, kam jeder, um Mustafa Abuelaish zuzuhören. Ich sah in ihm einen Mann mit Macht, einen Fels, einen Anführer, der mit den anderen Männern die Themen des Tages besprach. Er war hoch angesehen und für all seine Söhne, Brüder und Cousins ein Vorbild, selbst für meine Familie, da er der Einzige war, der uns regelmäßig besuchen kam.
    Ich war zu der Zeit noch ein Junge, und Kindern war es nicht erlaubt, bei den älteren Leuten zu sitzen. Ich erkannte hauptsächlich an der Art, wie die anderen zum Zuhören kamen, dass das, was er zu sagen hatte, wichtig war. Meist sprachen sie über ihre Vertreibung. Ich denke, dass dies für Leute, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, normal ist. Zuhause ist, wo man sich sicher oder zumindest verankert fühlt, egal wo und wie. Von dort verdrängt zu werden bedeutet, für den Rest des Lebens mit dem Mal der Vertreibung gebrandmarkt zu sein. Selbst heute, sechs Jahrzehnte nachdem meine Familie zu Flüchtlingen im Gazastreifen wurde, leide ich immer noch unter diesem Verlust. Trotzdem ließ ich mich nie in diese Trauer, die Nostalgie und die Empörung hineinziehen, die meinen Großvater auszeichnete. Ich lernte stattdessen, meine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, zu lernen und zu überleben. Ich wusste, dass es einen besseren Weg geben musste, und schon als Kind machte ich mich daran, ihn zu suchen.
    Wie die meisten palästinensischen Kinder hatte ich keine echte Kindheit. Bis ich zehn war, wohnte meine Familie, die inzwischen elf Mitglieder zählte, in einem Raum, der drei mal drei Meter maß. Es gab keinen Strom, kein fließendes Wasser, keine Toiletten im Haus. Unsere Mahlzeiten aßen wir von einem gemeinsamen großen Teller. Wir mussten uns bei den öffentlichen Toiletten anstellen und auf Wasser warten, das von den Vereinten Nationen verteilt wurde. Wir warteten auf die Karren, bei denen wir Petroleum oder Holz zum Kochen kauften. Wir waren barfuß, voller Flohstiche und hungrig.
    Wir schliefen – bis auf das Baby – alle gemeinsam auf einer großen Matratze, die tagsüber an der Wand aufgestellt war und abends heruntergelassen wurde. Es gab ständig ein Neugeborenes, so schien es, das in derselben Waschschüssel schlief, in der meine Mutter das Geschirr und die Wäsche wusch und uns Kinder mit einem Luffa-Schwamm abschrubbte. Wenn wir ins Bett gingen, wischte sie die Schüssel aus und benutzte sie als Wiege für das Baby.
    Eines Abends machte mein Bruder Nasser Ärger. Meine Mutter wollte ihm eine Ohrfeige geben, aber er wich ihr aus. Sie sprang auf und jagte ihm hinterher. Er trat in die Waschschüssel, um ihr zu entkommen – und trat auf das Baby.

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