Du sollst nicht hassen
Das Baby, meine erst ein paar Wochen alte Schwester, starb. Meine Mutter packte das Kleine; sie weinte und schrie. Nasser rannte hinaus und floh. Ich war damals fünf Jahre alt und erinnere mich nicht mehr genau an den Ablauf des Geschehens. Ich erinnere mich jedoch, dass weibliche Babys nicht viel zählten. Die Leute sahen es als Tragödie an, wenn ein Neugeborenes kein Junge war. So dachte man damals. Das kleine Mädchen, das Noor hieß, wurde am nächsten Tag auf dem Friedhof begraben, und wir sprachen nie wieder über den Vorfall. Das ist die schlimmste Erinnerung, die ich an die Zeit meiner Kindheit habe.
In einem überfüllten Flüchtlingscamp klammern sich die Menschen mit ihrer Hoffnung an einen Faden, der jeden Augenblick zu reißen droht. Ich weiß wirklich nicht, wie mein Vater die Bedingungen, unter denen wir lebten, ertrug – wenn man bedenkt, dass er den ersten Teil seines Lebens auf dem Gehöft seiner Familie gelebt hatte, wo es reichlich zu essen und einen großen Familienstolz gab.
Mein Vater war fünfunddreißig Jahre alt, als ich geboren wurde. Er war nicht groß, aber er war kräftig. Er trug die palästinensische Nationaltracht und hatte eine Kafiya, das Palästinensertuch, um seinen Kopf geschlungen. Mein Vater war ein hart arbeitender und erfolgreicher Bauer gewesen, aber im Camp musste er nach fragwürdigen Jobs suchen, die nie gut genug bezahlt waren, um seine erste Frau, ihre beiden Söhne und uns alle zu ernähren. Ich erinnere mich, dass er einmal einen Job als Wachmann in einer Orangenplantage hatte. Meine Mutter packte ihm ein Lunchpaket und gab es mir, damit ich es ihm brächte. Mir schwoll vor Stolz die Brust, so geehrt fühlte ich mich, dass sie mir vertraute. Doch schon mit sechs Jahren war mir klar, wie sehr es meinen Vater belastete, dass er seine Familie kaum ernähren konnte.
Meine Mutter war eine starke Persönlichkeit, groß und von blasser Haut. Ihr Mut und ihre Bestimmtheit machten sie zu einem großen Vorbild für mich. Tatsächlich forderte sie jeden heraus, der ihren Weg kreuzte. Ihr Charakter und ihre Zähigkeit halfen uns, mit den veränderten Lebensumständen, mit Mangel, Entbehrung und ständiger Bedürftigkeit zurechtzukommen. Sie kämpfte für uns und beschützte uns, wo immer das möglich war, und sie scheute sich nicht, die Versorgerrolle in unserer Familie zu übernehmen. Sie hielt Ziegen und Tauben auf kleinstem Raum. Von den Ziegen bekamen wir Milch und Eier von den Tauben, genug für unseren Tisch und sogar ein bisschen mehr, das man auf dem Markt verkaufen konnte.
Als ich dann zur Schule ging, kam sie manchmal, um die Lehrer nach meinem Betragen zu fragen. Ich wollte nicht, dass sie kam, flehte sie an, mich nicht vor meinen Freunden in Verlegenheit zu bringen. Aber ich konnte sie nicht davon abhalten. Sie wollte wissen, wie ich mich anstellte, also kam sie und fragte.
Ich erinnere mich, wie schmerzhaft es in der Zeit, bevor ich zur Schule kam, war, auf den Stufen vor unserem Haus zu sitzen und die anderen Kinder in ihren ansehnlichen Uniformen auf dem Weg zur Vorschule vorbeigehen zu sehen. Wir konnten uns keine Uniform leisten, also durfte ich nicht hingehen, egal wie lernbegierig ich war.
Es gab Menschen, die lange bevor die Flüchtlinge kamen, in Gaza lebten. Ihr Leben unterschied sich deutlich von unserem, und auch wenn sie nicht im Camp lebten, kamen die Kinder jeden Morgen an unserem Haus vorbei, während ich vor Eifersucht brannte und jedem, der es hören wollte, erzählte, wie ungerecht es war, dass nicht alle Kinder zur Schule gehen durften. Aber die Mehrheit der Leute, die wir kannten, waren in derselben Situation wie wir: zu sehr damit beschäftigt zu überleben, um sich darum Gedanken zu machen, ob sie das Geld für die Schulgebühren aufbringen konnten, um ihre Kinder in die Vorschule zu schicken.
Mit sechs Jahren kam ich in die Schule der Vereinten Nationen im Camp. Aber selbst in dieser Schule gingen die Preise an die Kinder, die am besten angezogen waren. Die Lehrer nann ten es »Sauberkeitspreis«, aber wir wussten alle, dass er für die Kinder mit den schönsten Kleidern war. Ich trug eine abgelegte Hose, die so oft geflickt und gestopft worden war, dass sie mehr Ausbesserungsfäden hatte als originale. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, ehe sich am System etwas änderte und die Schüler mit guten Leistungen die Aufmerksamkeit der Lehrer fanden. Das war meine Rettung.
Ich erinnere mich daran, wie aufgeregt ich an meinem ersten
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