Du sollst nicht hassen
meiner Mutter nicht sagen, dass ich ihn verloren hatte. Sie würde mich mit Sicherheit versohlen. Also rannte ich zur Schule, gestand es dem Lehrer, der ihn mir gegeben hatte, und beteuerte unter Tränen, dass es mir leidtat. Er gab mir einen neuen und ermahnte mich eindringlich, achtsam zu sein. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn ihn ein Mal verloren zu haben war schlimm genug.
In meiner Nachbarschaft studierten wir den Koran und lernten ihn auswendig, sodass wir ihn im Wettstreit rezitieren konnten. Der erste Wettstreit, den ich gewann, war während des Ramadan, als ich zehn Jahre alt war. Der Preis wurde durch den ägyptischen Gouverneur des Gazastreifens, Ahmed Aljroudi, verliehen. Als er meinen Namen aufrief, konnte ich mein Glück kaum fassen. Der Gouverneur übergab mir genug Geld, um gut zwei Wochen lang Essen für die Familie zu kaufen. Da stand ein wirklich armes Kind in Kleidern, die aus Lumpen zusammengeflickt waren, auf der Bühne der Moschee des Camps von Jabaliya und nahm zweieinhalb ägyptische Pfund in Empfang, ungefähr einen Dollar. Das war damals ein Vermögen, wenn man bedenkt, dass ein staatlicher Angestellter acht Pfund im Monat verdiente.
Meine Familie erhielt damals Unterstützung aus einem Sozialhilfefond der Gemeinde. Für fünfzig ägyptische Piaster oder ein halbes ägyptisches Pfund bekamen wir Öl, Butter, Reis und Suppe zum Einkaufspreis. Ich erinnere mich, wie ich einmal in der Schlange stand, um die Waren für meine Mutter zu holen, aber als ich vorne angekommen war und in die Tasche langte, um für die Lebensmittel zu bezahlen, entdeckte ich zu meinem großen Schrecken, dass das Geld verschwunden war. Es war durch ein Loch in meiner Tasche gefallen. War sie so oft geflickt worden, dass man darin keine Münzen mehr aufbewahren konnte? Hatte jemand mein Geld gestohlen? Ich wusste, dass meine Mutter sehr böse sein würde. Ich ging nach Hause und fürchtete mich bei dem Gedanken, ihr zu erzählen, was geschehen war.
Ich liebte meine Mutter, aber ich hatte auch Angst vor ihr. Und an dem Tag hat sie mich so sehr dafür geschlagen, dass ich das Geld verloren hatte, dass ich mich fragte, ob sie glaubte, dass ihre Schläge auf magische Weise die fünfzig Piaster aus meinen Knochen hervorzaubern würden. Danach schickte sie mich wieder auf die Straße, um nach dem Geld zu suchen. Ich krabbelte unter Tische und hinter die Marktstände. Ich wusste, dass es nicht da sein würde, aber ich hatte Angst, ohne das Geld zurückzukehren. Ich verstand nicht, warum sie das mit mir machte. Heute kann ich mir die Frustration erklären, die aufkommt, wenn man nicht genug hat, um seine Kinder satt zu bekommen, wenn das Leben einem einen Schlag nach dem nächsten verpasst und wenn man das Gefühl hat, dass, egal wie hart man arbeitet oder wie sehr man sich einer Sache widmet, alle Anstrengung vergeblich bleibt. Sie war verzweifelt, und manchmal waren die einzigen Ziele, gegen die sie ihre Wut richten konnte, diejenigen, die sie zu beschützen versuchte.
Es gab Zeiten, in denen ich mein Leben hasste, das Elend, in dem wir lebten, den Schmutz und die Armut. Ich hasste es, um drei Uhr früh aus dem Tiefschlaf geweckt zu werden, um arbeiten zu gehen. Und ich hasste mich dafür, nicht imstande zu sein, unsere Lage zu verbessern. In meiner Kultur wiegt die Verantwortung, die auf dem Ältesten lastet, sehr schwer. Ich war für meine Eltern ebenso verantwortlich wie für meine jüngeren Brüder und Schwestern. Ich fühlte mich, als würde ich ständig für jemand anderen leben, nie für mich selbst. Ich lehnte mich gegen viele Ungerechtigkeiten auf, als ich heranwuchs, aber heute schaue ich zurück und bin dankbar dafür, durch all das hindurchgegangen zu sein, dankbar für die Lehrer, die eine bessere Zukunft für mich sahen. Sie waren diejenigen, die mir das Selbstbewusstsein gaben, weiterzumachen. Es waren die Lehrer, die mir Türen öffneten und mich wissen ließen, dass es jenseits der drückenden Armut, in der wir lebten, eine Zukunft gab.
Ich werde oft gefragt, wie es war, im Flüchtlingscamp aufzuwachsen. Was haben wir gespielt? Womit haben wir uns vergnügt? Nun ja, manchmal sperrten wir zum Spaß Freunde in den Toiletten ein, oder wir spielten bei vierzig Grad Hitze stundenlang an den Wasserleitungen, spritzten einander und ahnungslose Passanten mit einem Schwall Wasser nass.
Einmal spielte ich an den öffentlichen Wasserstellen, die sich vor unserem Haus befanden und an denen wir alle
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