Du sollst nicht hassen
eine Ausreisegenehmigung und eine Erklärung der palästinensischen Autonomiebehörde brauchen, dass sie die Kosten für die medizinische Behandlung in Israel übernehmen würde. Das alles musste schnell geschehen: Wenn man mit der Chemotherapie bei einer akuten Leukämie sofort beginnt, steigen die Überlebenschancen dramatisch. Also hing ich mich ans Telefon und rief in Ramallah an, um mit meinen Kontakten bei der palästinensischen Autonomiebehörde zu sprechen. Ich bat sie auch, den Ärzten im Al-Shifa zu sagen, sie sollten sie nach Sheba schicken, in das Krankenhaus, in dem ich in Israel arbeitete.
Zum Glück ging alles schnell. Nadias Schwägerin, Aliah, begleitete meine Frau durch den Übergang Eres. Natürlich machte Nadia zu Hause Halt, um den Kindern zu versichern, dass alles in Ordnung und sie bald wieder bei ihnen zu Hause sei, und sie gelangte ohne Zwischenfälle nach Israel. Sie konnte ohne Hilfe gehen und war zuversichtlich, dass sie sich nach der Behandlung rasch erholen werde. Ich teilte ihre Zuversicht. Sie war immer so gesund gewesen. Die Ärzte in Israel wussten genau, was zu tun war. Offen gesagt, war es für mich unvorstellbar, dass sie ernstlich krank sein könnte; ich schloss jeden Gedanken an eine andere Möglichkeit aus. Ich bin sicher, das ist einer der Gründe, warum Ärzte keine Familienangehörigen behandeln sollen – sie haben Schwierigkeiten, die Patienten klinisch zu betrachten und lassen ihre Entscheidungen von ihren Emotionen beeinflussen.
Mein Rückflug war für den 25. September gebucht. Die Buchungen zu ändern würde enorme Komplikationen mit sich bringen, weil meine ganze Reise sich nach den datierten Genehmigungen richtete. Zudem hatte ich in Brüssel ein weiteres Bewerbungsgespräch, und ich hatte geplant, eine Woche länger zu bleiben, um meine Kollegen im Hôpital Erasme zu besuchen, an dem ich studiert hatte. Ich war hin- und hergerissen: Sollte ich versuchen, so schnell wie möglich nach Hause zu fliegen, oder sollte ich meinen Termin wahrnehmen und danach zurückkehren? Da ihre Behandlung gut verlief, riet Nadia mir, in Brüssel zu bleiben. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen.
Ich sollte meine Entscheidung schmerzlich bereuen. Ich könnte mich rechtfertigen, indem ich Nadia die Schuld gebe, weil sie weiterhin sagte: »Mach dir keine Sorgen. Alles läuft gut. Ich sehe dich in ein paar Tagen.« Aber ich weiß es besser. Ich bin der Arzt und hätte wissen sollen, was das Richtige ist, nämlich so schnell wie möglich zu meiner Frau zu fahren. Ich hatte den Papierkrieg vermeiden und – schlimmer noch – meine Karriere vorantreiben wollen.
Es waren furchtbare Tage. Es war immer noch Ramadan, und ich fastete. Ich konnte nicht schlafen, weil ich immer drüber nachdachte, was ich tun solle. Ich war täglich mit meiner Familie in Kontakt und entschied, meinen Rückflug aus Brüssel auf den 9. September vorzuverlegen. Dann machte ich mich an die ermüdende und ärgerliche Prozedur, die Tickets umzubuchen und die Genehmigungen ändern zu lassen. Ich fand eine Flugmöglichkeit von Brüssel über München und Istanbul nach Amman. Wäre ich kein Palästinenser, hätte ich direkt von Brüssel nach Tel Aviv fliegen können und wäre in ein paar Stunden zu Hause gewesen.
In der Zwischenzeit hatte Nadia gut auf die Chemotherapie angesprochen, und ich hoffte, wir hätten das Schlimmste überstanden. Das war der Stand, als ich am 9. September das Flugzeug in Brüssel bestieg. Als das Flugzeug später in München landete, hatte sich Nadias Zustand plötzlich verschlechtert, und sie war auf die Intensivstation gebracht worden. Ich ging durch den Gang des Flughafens und wünschte, ich könnte im Sheba-Krankenhaus an ihrer Seite sein. Jedes Mal, wenn ich anrief, hatte sich ihr Zustand weiter verschlechtert. Ich betete, hoffte und flehte um ihre Genesung.
Es war nach Mitternacht, als ich in Amman landete. Ein Taxi brachte mich zur Allenby-Brücke. Ich war seit dem frühen Morgen unterwegs, hatte in Flugzeugen gesessen, war durch Flughafengänge gelaufen und hatte die ganze Zeit nur an meine Frau gedacht. Aber Gesetz ist Gesetz, und nicht einmal Nadias sich verschlimmernde Lage in einem Krankenhaus nur eine Fahrstunde entfernt konnte etwas an der erbarmungslosen Tatsache ändern, dass die Brücke erst um sieben Uhr dreißig wieder öffnen würde; jetzt war es zwei Uhr. Ich telefonierte, um einen Fahrer zu organisieren, der auf der anderen Seite auf mich warten würde. Ich
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