Du sollst nicht hassen
Palästinas – loskommen? Wie sollten Psychologen, Soziologen, Mediziner und Ökonomen diese Menschen wiederherstellen, die durch den Irrsinn dieser Vernichtung gegangen waren?
Während wir warteten und um Erlösung beteten, wanderten meine Gedanken auch zu den Paaren in meiner Klinik, die jeden Monat warteten und um gute Nachrichten beteten. Vielleicht war es ein Weg, um selbst gesund zu bleiben, dass ich an die Bedrängnisse dachte, unter denen andere litten, an etwas, das meine Gedanken in eine andere Richtung lenkte, als die aktuelle Gefahr für diejenigen, die ich liebte. Ein Paar, das sich einer Fruchtbarkeitsbehandlung unterzieht, muss auch warten und hoffen. Einen Monat lang gibt es Injektionen, Ultraschalluntersuchungen und Bluttests; und währenddessen die Fragen der In-vitro-Fertilisation, über die die meisten Paare vor Beginn der Prozedur nicht diskutieren wollen. Die unbeantworteten Fragen, die Ungewissheit. Das alles kann lange dauern.
Ich erinnere mich daran, wie ich im Esszimmer unter Sperrfeuer saß und daran dachte, wie sehr diese unfruchtbaren Frauen leiden. Ich rief mir die Momente ins Gedächtnis, in denen ich sagen musste: »Tut mir leid, das Ergebnis ist negativ, Sie müssen es noch einmal versuchen.« So leicht sich solche Worte sagen, so hart klingen sie in den Ohren der Frauen. Doch es gibt auch die erfolgreichen Behandlungen, die Freude, die Sorge, die Entbindung. Zu guter Letzt ein Baby, das geliebt, aufgezogen, unterrichtet werden will. Und nach all dem soll dieses Kind Zuflucht unter dem Wohnzimmertisch suchen, um einer Rakete zu entgehen? Wohin würden all diese Mühen, ein Kind auf die Welt zu bringen, am Ende führen? Zur Erfüllung eines Traums oder zu einem Szenario wie dieses, in dessen Mitte ich jetzt saß?
Der 13. Januar war der bis dahin schwierigste Tag der Bodenoffensive. Wir konnten draußen nichts sehen, weil die Luft von den explodierenden Fluggeschossen voller Schutt und Staub war. Man konnte den Tag nicht von der Nacht unterscheiden. An diesem Nachmittag klopfte es laut und lang anhaltend an der Tür. Ich wollte nicht an die Tür gehen, aus Angst, es könnte ein Soldat sein, der uns befehlen würde herauszukommen. Aber das Klopfen hielt an, und so ging ich schließlich die drei Treppenabsätze hinab und öffnete die Tür. Noor, die siebzehnjährige Tochter meines Bruder Shehab, stand auf den Stufen, eine weiße Fahne über ihrem Kopf, das Gesicht nass vor Tränen, wilde Angst in den Augen. Ich packte sie und zog sie hinein. Ihre Familie war immer noch im Gemeindezentrum, aber Noor sagte, sie würde es dort nicht länger aushalten. Sie sagte zu uns: »Da sind fünfzig Leute in einem Raum. Wir sind zusammengepfercht wie Tiere und fühlen uns wie Geiseln. Es ist erniedrigend und beschämend, es gibt keinerlei Privatsphäre. Ich will lieber zu Hause sterben, als dort bleiben.« Also band sie ein weißes Handtuch an einen Stock und machte sich auf den gefährlichen Weg zu uns.
Ich fühlte mich schrecklich. Ich hatte nichts Besonderes zu essen da, um den Mut meiner Nichte zu feiern und sie willkommen zu heißen. Meine Tiefkühltruhe war immer voll, denn ich bin immer darauf vorbereitet, egal wie vielen Leuten zu essen zu geben, das ist Tradition in meiner Familie. Aber ohne Strom war das Essen verdorben. Ihr machte das nichts aus, sie sagte: »Es ist wie das Paradies hier, weil wir alle zusammen zu Hause sind.«
Am nächsten Morgen, dem 14. Januar, sah ich, wie ein Panzer sich unserem Haus näherte. Zunächst hoffte ich, er wäre falsch abgebogen oder suchte eine Stelle, wo er genug Platz hatte, um zu wenden. Aber er kam näher und näher. Bald schon war er nur noch zehn Meter vom Haus entfernt und zielte mit dem Geschossrohr auf die Wohnung, die von meinen Brüdern, ihren Frauen und Kindern bewohnt wurde. Wir warteten. Warteten auf irgendetwas – ein Wunder –, aber die Zeit verging und nichts passierte. Zugleich schien die Zeit stillzustehen, jeder Augenblick dauerte eine Minute oder eine Stunde. Welche Bedeutung hat Zeit schon in einer Zeit wie dieser? Wir hatten keine Kraft mehr, um zu denken. Wir fühlten uns außerhalb dieser Welt, ohne Zuversicht und ohne Mut. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, wir hätten den tiefsten Punkt des Menschseins erreicht und nichts mehr zu erwarten. Es blieb nur, auf Gott und unseren Glauben zu vertrauen. Während der drei Wochen des Krieges verloren wir unseren Glauben an die Menschlichkeit, also waren Gott und wir
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