Du sollst nicht hassen
der Waffenstillstand nicht sofort in Kraft treten könnte. Er wollte mehr über diesen Mann Barak wissen, von dem die Leute sagten, er hätte die Macht, die Feindseligkeiten zu beenden. Wir saßen alle im Kreis auf dem Esszimmerboden, und meine Kinder fragten mich nach Olmert und was er für ein Mann sei. Ich hatte Ehud Barak, den Verteidigungsminister, während des jüdischen Festes Sukkot vor vielen Jahren in seiner Wohnung kennengelernt. Es gibt eine Tradition, zum Sukkot zwei Vertreter aus jedem Krankenhaus zu entsenden, um dem Premierminister Grüße zu übermitteln. Als ich mich als palästinensischer Arzt aus dem Gazastreifen vorstellte, bat er mich, mich neben ihn zu setzen. Er wollte wissen, wie ich Arzt geworden war und wie ich mein Leben organisierte, aus Gaza kommend und in Israel arbeitend. Wir unterhielten uns mehr als eine Stunde lang.
Ich wollte, dass die Kinder ihn als Menschen sahen und nicht als ein Monster. Also ging ich zu meinem Schreibtisch, um das Foto zu suchen, das bei dieser Begegnung von ihm und mir gemacht worden war, und zeigte ihnen auch noch ein anderes von mir mit dem Premierminister Ehud Olmer, das aufgenommen worden war, als er als Bürgermeister von Jerusalem den ersten Weltkongress zu Geburtswehen und Entbindung in Jerusalem besucht hatte. Ich zeigte den Kindern diese beiden Fotos und sagte ihnen, dass beide Männer mit mir über die Koexistenz gesprochen hatten. Aber wie sollte ich erklären, dass die lächelnden Männer neben mir für den Tod und die Zerstörung vor unseren Fenstern verantwortlich waren? Wie konnten sie ihre Humanität vergessen und ihre langfristigen Ziele verraten? Warum brachen sie ihre Versprechen? Im Hinterkopf hatte ich noch eine andere Sorge: Wenn vom Waffenstillstand die Rede ist, ist das meist auch ein Zeichen, dass das letzte schwere Bombardement eines Konfliktes bevorsteht. Die letzten Stunden sind stets die brutalsten, und wenn die Soldaten sich zurückziehen, hinterlassen sie meist ein Blutbad.
Als die Familie so um mich herum saß, traf mich diese Erkenntnis wie ein Schlag, aber ich bewahrte den Anschein von Ruhe, als wir über unsere Träume für die Zukunft sprachen. Bessan erzählte uns von ihren Studien an der Universität und was sie zu tun hoffte, wenn sie fertig wäre. Mayar hatte eine wichtige Mitteilung zu machen: »Aya hat heute Morgen ihre erste Periode bekommen. Alle müssen ihr gratulieren, weil sie nun Frau geworden ist.« Dies ist ein enormes Ereignis im Leben eines jungen Mädchens, und Aya muss den Verlust ihrer Mutter schmerzlich gespürt haben, aber wir taten alle unser Bestes, um zu bestätigen, dass ein besonderer Abschnitt in ihrem Leben begonnen hatte.
Als ich meine Kinder so ansah, war ich plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich sie wirklich dem Leben und der Kultur entreißen durfte, die sie kannten. Ich hatte vor Kurzem noch ein Stellenangebot bekommen, und zwar von der Universität Haifa. Ich wollte es ablehnen, aber ich fragte sie, was ihnen lieber wäre: über die Grenze zu ziehen und in Haifa zu leben oder um die halbe Welt nach Kanada zu fliegen. Meine Brüder sagten, dass ich nach Haifa gehen solle, weil es besser sei, nahe bei der Familie zu bleiben, aber dann wiederholte Aya, was sie zuvor schon einmal gesagt hatte: »Ich will fliegen.« Als wir dort auf dem Boden im Esszimmer saßen, beschlossen wir, nach Kanada zu gehen. Meine Nichte Noor sagte: »Kann ich mit euch kommen? Könnt ihr mich in euren Koffer packen?«
Wir beschlossen, Dalal von der Familienentscheidung zu berichten; wir waren seit Beginn des Einmarsches getrennt und hatten in der ganzen Zeit kaum eine Chance gehabt, mit ihr zu sprechen. Sie war ganz aufgeregt und sagte uns, dass sie sich um uns sorge und wie sehr sie wünschte, nicht von uns getrennt zu sein. Wir versicherten ihr, wir seien überzeugt, dass dieser Wahnsinn bald vorüber und wir wieder zusammen sein würden. Nachdem jedes ihrer Geschwister mit ihr gesprochen hatte, erinnerte ich sie, dass mein Handy unsere Verbindung zur Außenwelt war und wir den Akku schonen mussten. Niemand wollte die Verbindung mit Dalal beenden, und nachdem wir aufgelegt hatten – ich erinnere mich, es war genau fünfzehn Uhr dreißig –, saßen wir lange Zeit schweigend beisammen.
Schließlich verließen wir das Esszimmer. Ich bereitete ein Interview mit Oshrat Kutler von Channel 10 vor – darüber, welchen Effekt der Einmarsch auf die Gesundheit von Frauen haben würde. Shatha, Mayar, Aya und Noor
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