Du sollst nicht lieben: Roman (German Edition)
einsehen, dass ich mich von jemandem, dem ich mal sehr nahestand, innerlich weit entfernt habe.«
Die Flugbegleiterin knallte die Tür zu und klebte einen orangefarbenen Streifen über das Fenster. Nicky bezweifelte, dass dieser Fetzen im Notfall irgendetwas bewirkte. Sie merkte, dass Adams dunkle Augen sie die ganze Zeit eindringlich ansahen. Ihn schien tatsächlich zu interessieren, was sie erzählte. Wehmütig fragte sie sich, ob sie früher auch so gewesen war – so neugierig, so begeistert von allem Unbekannten.
»Erzählen Sie.«
Sie holte tief Luft. »Ich war zu Besuch bei einer alten Freundin. Nur übers Wochenende. Sie ist inzwischen verheiratet und lebt mit Mann und zwei Kindern in Bilbao. Es gab überhaupt keine Gemeinsamkeit mehr zwischen uns. Sie hat nur von ihren Kindern geredet, ich habe andere Interessen. Und das war’s im Prinzip.«
Auf welche einfachen Begriffe sich unsere komplizierten Geschichten bringen lassen, dachte sie. Sam. Das berüchtigte Party-Girl – bis zu
dem
Abend. Ihre Freundschaft hatte den Tod von Grace nicht überlebt. Die Tragödie hatte sie alle verändert, jeden auf seine Weise. Sam war nach Spanien geflüchtet, hatte einen Arzt geheiratet und war komplett abstinent geworden. Nicky beneidete sie um diese Fähigkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, sich eine neue Identität zuzulegen. Für sie selbst war das undenkbar.
Grace war die Schwester gewesen, die sie nie gehabt hatte. Ihre Freundschaft hatte die Teenie-Jahre ebenso überdauert wie die Zeit, als sie an unterschiedlichen Unis studierten, eine Reihe wechselnder Freunde ebenso wie Phasen, während derer die eine oder die andere im Ausland arbeitete. Sie hatte sogar gehalten, als Grace Greg heiratete – und darüber hinaus. Ihnen war das Glück einer unauflöslichen Bindung beschert gewesen, und sie hatten leichtfertig angenommen, dass diese ewig bestehen würde und sie sich im Altenheim – wenn ihre Männer längst tot waren und ihre Kinder erwachsen – wiedertreffen und schnattern und tratschen und lachen würden, Freundinnen wie eh und je.
Wie hatten sie sich getäuscht.
Grace hatte nie weiter in die Zukunft geschaut als bis zu ihrem Dreißigsten. Nicky spürte die vertraute Wut in sich aufsteigen und stemmte die Knie gegen die Lehne des Sitzes vor ihr. Dann wandte sie sich wieder an Adam, der sie immer noch erwartungsvoll anschaute. »Und was haben Sie in Spanien gemacht?«
»Meinen Freund Davide getroffen.« Er schwieg einen Moment und fragte dann: »Womit verdienen Sie Ihr Geld?«
»Ich schreibe Nachrufe. Für meine Sünden.«
»Wow! Das klingt toll.«
Nicky konnte nicht anders als lächeln. Er war so jung! So enthusiastisch! So vollkommen anders als sie selbst, die sie zur saturierten Zynikerin geworden war. Die Trauer und die vielen Fragen, auf die es nie eine Antwort geben würde, hatten ihr Herz verhärtet.
»Es macht mir Spaß – zum Glück, denn es ist mein täglich Brot. Ich nehme an, für die meisten Leute spielt es am Ende, wenn sie zurückschauen, eine große Rolle, ob sie das, was sie getan haben, gern getan haben.«
Adam lehnte sich zurück. »Schon komisch, dass die Leute immer erst am Ende des Lebens Bilanz ziehen. Dass sie erst Ballast abwerfen, wenn das Ende in Sicht ist. Meine Tante liegt gerade im Sterben.«
»Oh, das tut mir leid.« Das meinte sie ehrlich. Sie wusste, dass sie kein Monopol auf Leid und Trauer hatte, auch wenn es sich manchmal so anfühlte.
Er wischte ihr Mitgefühl beiseite. »Sie hatte ein interessantes Leben. Mehr können wir doch wahrscheinlich nicht verlangen, oder? Trotzdem verbringt sie, wenn sie klar ist, ihre Zeit damit, zurückzuschauen, und offenbar bereut sie vieles. Mir kommt es so vor, als würde sie von der Vergangenheit verfolgt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist wichtig, dass man sein Leben lang unter jedes Kapitel einen Schlussstrich zieht, bevor man was Neues anfängt.«
Das gab Nicky zu denken. Es wäre ein Fehler gewesen, ihn für naiv zu halten, bloß weil er jung war. Sie legte die Hände im Schoß zusammen und schaute nach draußen.
Schlussstrich.
Das war ein hartes Wort, aber auch ein verlockendes. Der Ehering an ihrem Finger fühlte sich kalt an. Die Tatsache, dass sie keinen Schlussstrich unter den Tod von Grace zog, verursachte in ihrer Ehe große Probleme.
Als sie zum Anfang der Startbahn rollten, drehte sie sich zu Adam um. »Und was machen Sie?«
»Ach …« Er zögerte kurz. »Sie wissen ja, wie es
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