Du sollst nicht sterben
ihren Erwartungen nicht entsprach. Schon mehrfach hatten ihre Temperamentsausbrüche einen unfähigen Kellner oder eine Verkäuferin getroffen, was ihm selbst immer äußerst peinlich war. Andererseits hatte er genau das an ihr attraktiv gefunden. Sie war ein Mensch, der sich für seine Ziele anstrengte und begeisterte, ein Scheitern aber nicht akzeptieren konnte.
Das erklärte auch ihre tiefe Unzufriedenheit und die gelegentlichen Zornesausbrüche, da sie nach Jahren diverser Fruchtbarkeitstherapien noch immer nicht das Baby gezeugt hatten, nach dem sie sich beide so verzweifelt sehnten.
Während er Eric Claptons Change The World vorsich hin summte, trug er seine Kaffeetasse zurück an den Schreibtisch in dem verlassenen Großraumbüro im zweiten Stock des Polizeireviers in der John Street. Reihen von Schreibtischen, ein schäbiger blauer Teppich, vollgestopfte Ablagefächer. Durchs Fenster blickte man auf die weiße Mauer und die schimmernden blauen Fenster der American Express-Zentrale. Er loggte sich in das behäbige Computersystem ein, um die neuesten Meldungen zu überprüfen. Während er wartete, dass das Programm startete, trank er einen Schluck Kaffee und spielte mit dem Gedanken an eine Zigarette, wobei er das kürzlich eingeführte Rauchverbot in den Büros der Polizei verfluchte.
Wie jedes Jahr hatte man versucht, ein bisschen Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Von der Decke hingen Papiergirlanden und Lametta an den Trennwänden zwischen den Schreibtischen. Auf vielen Tischen standen Weihnachtskarten.
Sandy war nicht sonderlich begeistert gewesen, dass er zum zweiten Mal in drei Jahren an Weihnachten Dienst hatte. Gewiss, es war eine ganz ungünstige Woche, um zu arbeiten. Selbst die örtlichen Ganoven blieben zu Hause, betranken sich, dröhnten sich mit Drogen zu.
Andererseits war Weihnachten die Zeit der plötzlichen Todesfälle und Selbstmorde. Wer Freunde und Familie hatte, konnte von Glück sagen, doch für die einsamen und alten Menschen, Menschen, die nicht einmal genug Geld hatten, um ihre Wohnung richtig zu heizen, war es eine verzweifelte Zeit. Schwere Verbrechen gab es hingegen kaum, dabei waren genau dies die Fälle, mit denen sich ein ehrgeiziger junger Detective Sergeant wie er auszeichnen konnte.
Doch das sollte sich ändern.
Die Telefone waren ungewöhnlich still gewesen, doch als die ersten Meldungen auf dem Bildschirm erschienen, klingelte seine interne Leitung. »Kripo«, meldete er sich.
Es war eine Mitarbeiterin der Kontrollstelle, die alle eingehenden Anfragen bearbeitete. »Hallo, Roy, frohe Weihnachten.«
»Dir auch, Doreen.«
»Wir haben hier einen möglichen Vermisstenfall. Rachael Ryan, zweiundzwanzig, verabschiedete sich am Heiligabend am Taxistand in der East Street von ihren Freundinnen, um zu Fuß nach Hause zu gehen. Sie ist nicht zum Weihnachtsessen bei ihren Eltern erschienen und meldet sich weder am Festnetzanschluss noch auf ihrem Handy. Ihre Eltern haben um drei Uhr gestern Nachmittag an ihrer Wohnung in der Eastern Terrace in Kemp Town geklingelt, doch es öffnete niemand. Sie haben uns mitgeteilt, dass es gar nicht zu ihrer Tochter passt. Sie sind sehr besorgt.«
Grace nahm die Adressen von Rachael Ryan und ihren Eltern auf und versicherte, er werde der Sache nachgehen.
Zurzeit war es Strategie bei der Polizei, bei einem Vermisstenfall mehrere Tage zu warten, bevor man Nachforschungen einleitete. Ausnahme waren Minderjährige und ältere Menschen oder Leute, die als besonders hilfsbedürftig galten. Da dieser Tag jedoch ruhig zu werden versprach, beschloss er, etwas zu unternehmen, statt nur auf dem Hintern zu sitzen.
Der Detective Sergeant stand auf und ging zu seinem Kollegen DS Norman Potting hinüber. Er war fünfzehn Jahre älter als er, ein alter Hase, der nie befördert worden war, was zum einen an seiner mangelnden politischen Korrektheit lag, aber auch an seinem chaotischen Familienleben. Außerdem zog er es wie sein verstorbener Vater vor, an der Front zu arbeiten, statt die bürokratische Verantwortung zu übernehmen, die eine Beförderung mit sich gebracht hätte. Grace war einer der wenigen, die Potting mochten, und er hörte sich gerne seine Frontgeschichten über frühere Fälle an, weil er daraus lernen konnte und außerdem Mitleid mit dem Mann empfand.
Der DS tippte mit dem rechten Zeigefinger konzentriert auf seiner Tastatur. »Neue Scheißtechnik«, brummte er vor sich hin, als Grace neben ihn trat. Der ganze Mann verströmte
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