Du sollst nicht sterben
Zwölfstundenschichten ab. Glenn Branson hatte ihn auf dem Heimweg zu einem Bier einladen wollen, doch Grace hatte sich entschuldigt. Er hatte Cleo am Wochenende kaum gesehen, zudem wurden die Eheprobleme seines Freundes immer schlimmer, und er wusste allmählich nicht mehr, wie er Glenn trösten sollte. Eine Scheidung war eine unerfreuliche Aussicht, vor allem, wenn man kleine Kinder hatte. Doch es gab im Grunde keine Alternative, so gern er Glenn geholfen hätte. Sein Freund würde in den sauren Apfel beißen und sein Leben neu ordnen müssen. Aber das war leichter gesagt als getan. Plötzlich sehnte er sich nach einer Zigarette und konnte nur mit Mühe widerstehen. Cleo hatte nichts dagegen, wenn er hier rauchte, doch er sorgte sich um das Baby. Passivrauchen war nicht gesund, und er wollte ein gutes Beispiel abgeben. Also trank er, um den Drang zu vertreiben.
»In fünf Minuten bin ich fertig!«, rief sie aus der Küche. »Brauchst du noch einen Drink?« Sie steckte den Kopf durch die Tür.
Er hob sein beinahe leeres Glas. »Wenn ich noch einen trinke, liege ich unter dem Tisch.«
»Also genau da, wo ich dich gerne habe!«, sagte sie und kam zu ihm.
»Du bist vielleicht ein Kontrollfreak!«, sagte er mit einem breiten Grinsen.
Für diese Frau würde er sein Leben geben. Er würde für Cleo sterben, ohne mit der Wimper zu zucken.
Dann plötzlich überfiel ihn ein seltsames Schuldgefühl. Hatte er nicht Sandy gegenüber auch einmal so empfunden?
Er versuchte, ehrlich zu sich zu sein. Sicher, es war die Hölle gewesen, als sie verschwand. Am Morgen seines dreißigsten Geburtstags hatten sie miteinander geschlafen, dann war er zur Arbeit gegangen. Abends war er nach Hause gekommen, voller Vorfreude auf die Feier, doch sie war nicht da gewesen.
In den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren, die folgten, hatte er sich ausgemalt, welch schreckliche Dinge ihr zugestoßen sein mochten. Und manchmal auch, dass sie sich immer noch in der Gewalt irgendeiner Bestie befand. Aber das war nur eine von vielen Möglichkeiten. Es gab nur eins, dessen er sich halbwegs sicher war: dass Sandy noch lebte. Er wusste nicht mehr, wie viele Medien er in den vergangenen zehn Jahren konsultiert hatte – nicht eines von ihnen hatte behauptet, sie befinde sich in der Geisterwelt.
In wenigen Monaten jährte sich der Tag ihres Verschwindens zum zehnten Mal. Ein ganzes Jahrzehnt, in dem aus einem jungen Mann ein Kerl mittleren Alters geworden war.
In dem er der hübschesten, klügsten, unglaublichsten Frau der Welt begegnet war.
Manchmal wachte er auf und glaubte, er habe alles nur geträumt. Dann spürte er Cleos warmen, nackten Körper neben sich. Er nahm sie in die Arme und hielt sie ganz fest, als wollte er einen Traum festhalten.
»Ich liebe dich so sehr«, flüsterte er.
»Scheiße!« Cleo vertrieb den Zauber, als sie sich von ihm losriss.
Aus der Küche roch es verbrannt. Sie eilte zum Herd. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
»Schon gut, ich mag es richtig durch. Es liegt mir nicht, wenn das Herz des Fisches noch schlägt!«
»Glück gehabt!«
Die Küche füllte sich mit schwarzem Rauch und dem Gestank von verbranntem Fisch. Roy öffnete Fenster und Terrassentür, worauf Humphrey nach draußen schoss und wie wahnsinnig mit seinem quiekenden Welpengebell loslegte.
Wenige Minuten später saß Grace am Tisch. Cleo stellte ihm einen Teller hin. Darauf lagen ein geschwärztes Thunfischsteak, ein Klecks Sauce Tartare und ein Haufen zerkochter Kartoffeln. »Wenn du das isst, weiß ich, dass du mich wirklich liebst.«
Der Fernseher über dem Tisch war eingeschaltet, der Ton abgestellt. Der Politiker war verschwunden, und Jamie Oliver demonstrierte voller Energie, wie man die Rogen aus einer Jakobsmuschel entfernt.
Humphrey stieß sein rechtes Bein an und versuchte, daran hochzuspringen. »Sitz! Hier wird nicht gebettelt!«
Der Hund schaute ihn verunsichert an und schlich davon.
Cleo setzte sich neben ihn und runzelte die Stirn. »Du musst es nicht essen, wenn es so schrecklich ist.«
Er schaufelte sich eine Gabel Fisch in den Mund. Er schmeckte noch schlimmer als er aussah. Cleo war sonst eine erstklassige Köchin, doch heute war nicht ihr Tag.
»Wie war dein Tag?«, erkundigte er sich und steckte sich skeptisch ein weiteres Stück verbrannten Fisch in den Mund. Vielleicht waren die Currys doch nicht so übel.
Sie berichtete von der Bergung einer 270 Kilo schweren Männerleiche, bei der man die Hilfe der Feuerwehr benötigt
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