Du sollst nicht sterben
Komplexe wegen ihrer Nase. In ihren Au gen war es eher ein Zinken. Als Teenager hatte sie ständig zur Seite geschaut, um sich in Spiegeln oder Schaufenstern zu betrachten. Und beschlossen, sich eines Tages die Nase operieren zu lassen.
Doch das war gewesen, bevor sie Benedict kennenlernte. Mit fünfundzwanzig war es ihr endlich egal. Er hatte gesagt, er liebe ihre Nase, und wollte von einer Operation nichts hören. Er hoffe, dass ihre Kinder ihre Nase erben würden. Das ging dann doch zu weit, sie sollten nicht das gleiche Elend durchmachen wie sie selbst.
Die Nasen ihrer Kinder würde sie operieren lassen, das hatte sie sich insgeheim vorgenommen.
Ironischerweise hatten weder ihre Eltern noch ihre Großeltern eine derart große Nase. Ihre Mutter hatte erklärt, sie sei ein Erbstück ihres Urgroßvaters, von dem sie eine gerahmte, sepiabraune Fotografie besaß. Das verdammte Hakennasen-Gen hatte es geschafft, zwei Generationen zu überspringen und ausgerechnet in ihrer DNA wieder aufzutauchen.
Danke vielmals, Uropa!
»Weißt du was, ich liebe deine Nase jeden Tag mehr!«, sagte Benedict, hielt den Löffel hoch, den sie soeben abgeleckt hatte, und gab ihn ihr.
»Nur meine Nase?«, zog sie ihn auf.
Er zuckte mit den Schultern und wurde nachdenklich. »Andere Körperteile wohl auch, nehme ich an!«
Sie versetzte ihm einen spielerischen Tritt. »Welche Körperteile?«
Benedict hatte braunes Haar und ein ernsthaftes, kluges Gesicht. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie an die gepflegten, unglaublich perfekten Schauspieler denken müssen, die in jeder amerikanischen Fernsehserie als netter Junge von nebenan auftauchten. Bei ihm fühlte sie sich einfach wohl. Er vermittelte ihr Sicherheit und Geborgenheit, und sie vermisste ihn, wann immer sie voneinander getrennt waren. Sie freute sich unglaublich auf ein Leben mit ihm.
Und doch gab es ein Problem, das einen dunklen Schatten auf ihr Glück warf.
»Und, hast du es ihnen gestern Abend gesagt?«
Freitagabend. Sabbat. Der rituelle Freitagabend mit ihren Eltern, ihrem Bruder, ihrer Schwägerin und ihrer Großmutter, den sie nie verpasste. Die Gebete und das gemeinsame Essen. Den gefilte Fisch, der wie Katzenfutter schmeckte, weil ihre Mutter eine grauenhafte Köchin war. Das eingeäscherte Huhn und die verschrumpelten Maiskörner. Die Kerzen. Den scheußlichen Wein, den ihr Vater gekauft hatte – als wäre es eine Todsünde, am Freitagabend Alkohol zu trinken, und als habe er wenigstens dafür sorgen wollen, dass das Zeug wie eine Strafe schmeckte.
Ihr Bruder Marcus war der große Star der Familie. Rechtsanwalt, verheiratet mit Rochelle, einem braven jüdischen Mädchen, das aufreizend schwanger war, was beide aufreizend selbstzufrieden machte.
Seit vier Wochen nahm sie sich jeden Freitag vor, ihrer Familie die Neuigkeiten mitzuteilen. Sie sei verliebt und wolle einen goi heiraten. Mehr noch, einen armen goi. Aber sie hatte es wieder vermasselt.
Sie zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ich wollte ja – aber – es war einfach nicht der richtige Augenblick. Sie sollten dich lieber erst kennenlernen. Damit sie sehen, was für ein netter Mensch du bist.«
Er runzelte die Stirn. Sie legte den Löffel weg und ergriff seine Hand. »Ich hab’s dir ja gesagt – mit ihnen hat man es nicht leicht.«
Er legte seine andere Hand über ihre und schaute ihr in die Augen. »Heißt das, du hast Zweifel?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Absolut nicht. Ich liebe dich, Benedict, und möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Ich habe nicht die geringsten Zweifel.« Und so war es auch.
Aber sie hatte ein Problem. Benedict war kein Jude. Und auch nicht reich. Noch besaß er keinen finanziellen Ehrgeiz, den ihre Eltern verstanden hätten. In anderer Hinsicht war er durchaus ehrgeizig. Er arbeitete für eine karitative Organisation, die sich um Obdachlose kümmerte. Er wollte den unterprivilegierten Menschen in dieser Stadt helfen. Er träumte davon, dass irgendwann niemand mehr in dieser reichen Stadt auf der Straße schlafen musste. Dafür liebte und bewunderte sie ihn.
Ihre Mutter hatte davon geträumt, dass ihre Tochter Ärztin würde, was auch Jessie sich früher gewünscht hatte. Dann entschied sie sich jedoch für eine Ausbildung zur Krankenschwester, was ihre Eltern akzeptiert hatten, wenngleich ihre Mutter weniger Verständnis dafür aufbrachte als ihr Vater. Nach der Abschlussprüfung wollte sie den sozial Schwachen helfen und nahm eine
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