Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
unserer Rückkehr die Ehre erwiesen hätten. Dann hält er sich die Hände vors Gesicht. Später erfahren wir, dass sein Sohn vor einer Woche getötet worden war.
Julia legt ihren Film ein. Er zeigt Abdul Latif während unserer gemeinsamen Reise. Von Tobruk bis Brega. Während der Vorführung ist es mucksmäuschenstill. Schultern und Köpfe fallen noch tiefer nach unten. Ein Sohn Abdul Latifs stürzt aus dem Raum und läuft schluchzend nach oben. Die Familie erlebt die Katastrophe noch einmal. Wie Abdul Latif zu seinem Wagen zurückkehrt, die Rakete einschlägt, der Wagen explodiert. Als der Film zu Ende ist, herrscht wieder Grabesstille. Abdul Latifs Freund öffnet die Vorhänge. Nur langsam kommt die Familie zu sich.
Der Bericht des Bruders
Ahmad ergreift das Wort. Er bedankt sich im Namen seines Bruders für die Tage, die wir mit ihm verbracht haben. Dafür, dass wir zurückgekommen sind. Und für Julias Film. Allerdings sei alles noch dramatischer gewesen. Abdul Latif sei aus dem explodierenden Auto geschleudert worden. Tödlich verwundet, aber nicht tot.
Eine Rebellengruppe habe den Angriff aus der Ferne beobachtet und den Feuerball des Autos gesehen. Sie habe trotz eines nicht endenden Kugelhagels eine Stunde lang versucht, sich zu uns vorzukämpfen. Dabei seien mindestens zwei, möglicherweise auch vier Rebellen verletzt worden. Schließlich hätten sie den tödlich verwundeten Abdul Latif gefunden und ins Krankenhaus von Adschdabiya transportiert. Dort sei er morgens gegen 4 Uhr verstorben.
Bei dem Toten habe es sich mit großer Sicherheit um Abdul Latif gehandelt. In der Aufbewahrungskammer des Krankenhauses habe man seinen Ring und seine Casio-Armbanduhr gefunden. Am Morgen sei Abdul Latif unter dem Beschuss der herannahenden Truppen Gaddafis begraben worden. An einem anonymen Ort. Namenlos. Damit er in Frieden ruhen könne.
Ich habe Mühe, Luft zu bekommen. Es ist, als fiele mir ganz langsam die Decke auf den Kopf und erdrückte mich. Ich blicke auf Julia. Sie ist wie vom Donner gerührt. Ahmads Geschichte kann nicht wahr sein. Julia erwartet, dass ich protestiere. Dass ich alles noch einmal detailliert darlege. Doch ich sehe die tiefe Trauer und Verzweiflung der Familie. Ich kann jetzt nicht widersprechen. Nach einer langen Pause sage ich: »Wir haben nun zwei Versionen des Anschlags. Ich schließe nicht aus, dass Ihre Darstellung die richtige ist. Nur Allah weiß die volle Wahrheit.«
Fast erleichtert atmet die Familie auf. Sie hatte sich bei ihren Recherchen so viel Mühe gegeben. Und ihre Erkenntnisse so oft weitererzählt. Ein Streit mit den Freunden Abdul Latifs wäre schrecklich gewesen. Julia schaut mich entgeistert an.
Nur äußerlich ruhig, frage ich die Brüder Abdul Latifs, was wir falsch gemacht hätten. Sie reagieren ganz aufgeregt, fast entsetzt. Wie wir darauf kämen? Wir hätten uns genau richtig verhalten. Unbewaffnet habe niemand gegen die Raketen Gaddafis eine Chance gehabt. Genau wie Abdul Latif. Die Familie sei glücklich, dass wir überlebt hätten. Alles andere wäre für sie unerträglich gewesen.
Ein junger Arzt betritt den Raum. Er ist Nachbar und enger Freund der Familie. Abdul Latif nennt er »seinen Bruder«. Er habe als Anästhesist an den Wiederbelebungsversuchen Abdul Latifs mitgewirkt. Doch er habe ihn nicht erkannt. Er sei an jenem Tag an über 20 Operationen beteiligt gewesen. Er erinnere sich noch, dass er die ausgetretene Hirnmasse abgeschnitten habe. Nach einem Luftröhrenschnitt sei Abdul Latif künstlich beatmet worden.
Julia wird immer fahler im Gesicht. Ich frage, wie es möglich sei, dass Abdul Latif mit derart schweren Verletzungen noch zwölf Stunden gelebt habe. Der Arzt zuckt mit den Schultern. Er habe dafür keine Erklärung. Etwas Vergleichbares habe er noch nie erlebt.
Dann zeigt er uns das Video, das routinemäßig bei Operationen aufgenommen wird. Es sind Bilder des Grauens. Wir sehen einen rot, rosa, schwarz verbrannten Körper, einen zur Operation geöffneten blutenden Hals – und einen nahezu völlig verbundenen Kopf. Nur die Nase ragt, geschwollen und dunkelblau, aus dem Verband heraus. Ich versuche, Abdul Latif zu erkennen – vergeblich. Ich kann einen Menschen nicht anhand seiner geschwollenen, verfärbten Nase identifizieren. Ich kann nur hoffen, dass dieser Mensch, wer immer es gewesen sein mag, keine Schmerzen mehr hatte.
Der junge Arzt nickt verständnisvoll. Er habe Abdul Latif auch nicht erkannt. Obwohl sie sich mehrmals die
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