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Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Titel: Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Todenhöfer
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Woche gesehen hätten. Als allerdings am nächsten Mittag die Familie angerufen habe, habe er sich den Verstorbenen noch einmal genau angesehen. An den Augen habe er seinen Freund schließlich wiedererkannt.
    »Hatte er Schmerzen?«, frage ich kaum hörbar. »Nein, nicht eine Sekunde. Wahrscheinlich hat er bereits durch die Druckwelle der Rakete das Bewusstsein verloren. Wenn nicht, haben ihm die schweren Kopfverletzungen sofort das Bewusstsein geraubt. Er hat nicht gelitten. Er war tödlich verwundet, auch wenn sich sein Körper zwölf Stunden lang weigerte zu sterben.«
    Julia schaut mich immer wieder an. Ahmads Geschichte kann doch gar nicht wahr sein. Schließlich stellte sie selbst ihre Fragen an Ahmad und den Arzt. Sorgfältig drauf bedacht, niemanden zu verletzen.
    Wie komme es, dass Yussuf kurz nach dem Anschlag und auch am nächsten Tag beteuert habe, er habe genau gesehen, wie Abdul Latif im brennenden Auto saß? Er war doch nur wenige Meter entfernt, als die Rakete einschlug. Wie komme es, dass wir von den eine Stunde lang dauernden Kämpfen zu unserer Rettung nichts gehört hatten? Wir waren doch nur 1000 Meter entfernt. Wie komme es, dass im Hauptquartier der Rebellen von Adschdabiya nachts um 1 Uhr noch immer niemand von diesen Kämpfen wusste? Wie komme es, dass der Arzt seinen Freund stundenlang operiert habe, ohne ihn zu erkennen? Abdul Latif sei doch bestimmt erst später verbunden worden. Und warum sei Abdul Latif auf den Fotos, die Julia nach dem Anschlag von unserem brennenden Auto gemacht hatte, nirgendwo zu sehen?
    Julia ist völlig verzweifelt. Vor allem, als ich ihr noch einmal sage: »Wir sollten die Geschichte der Familie so stehen lassen. Vielleicht stimmt sie tatsächlich.« Ahmad nimmt mich wie einen Bruder in den Arm. Ich war gekommen, um ihn und seine Familie zu trösten. Jetzt tröstet er mich. Er ahnt, was in mir vorgeht.
    Die libysche Mama
    Ich gehe zu Abdul Latifs Mutter. Sie ist 72 Jahre alt und eine echte südländische Mama. Würdig trägt sie einen stilvollen schwarzen Ganzkörperschleier mit langen silberweißen Streifen. Sie residiert auf einer kleinen verzierten Decke im Flur. Von hier aus hat sie alle Zimmer und die ganze Familie im Blick. Alles dreht sich um sie, alle verehren und lieben sie. Ahmad nennt sie seine »Königin«.
    Ich setze mich neben sie und nehme ihre Hände. Ich weiß, dass sich das nicht gehört. Aber das ist mir in diesem Augenblick egal. Ich muss die Hände der Mutter Abdul Latifs ergreifen, um ihr für ihren Sohn zu danken. Um ihr zu sagen, welch wunderbarer Mensch er war. Abdul Latifs Mutter weint und weint. Doch dann dankt sie mir. Dafür dass ich sein Freund war und ihn nicht vergessen hätte. Mit ihrer dunklen, melodisch warmen Stimme sagt sie: »Ich wünschte, er hätte noch viel mehr für Sie und Julia getan. Aber Sie beide leben, das ist viel wert. Gott segne Sie.«
    Sie macht eine lange Pause. »Mein Sohn hat würdig gelebt, und so ist er gestorben. Ich wünschte, ich wäre an seiner Stelle abberufen worden. Doch der Wille Gottes war anders. Er wird mir helfen, diese Prüfung zu bestehen. Ich hoffe, dass jetzt niemand mehr getötet wird. Auch keine Feinde mehr. Auch sie sind unsere Brüder.«
    Inzwischen stehen Abdul Latifs Brüder und auch Khaldoun um uns herum. Sie freuen sich, dass ich neben ihrer Mutter sitze. Ahmad streicht ihr liebevoll die Tränen aus dem Gesicht. Ich frage die »Königin«, ob ich Abdul Latifs Frau, Tochter und Schwestern in den Frauengemächern begrüßen dürfe. Abdul Latifs Mutter nickt. Es gibt Augenblicke, in denen alle Traditionen aufgehoben sind.
    Gegen Abend verlassen wir das Haus. Wir fahren ans Meer. Eine frische Brise weht uns entgegen. Ich fürchte, dass Ahmads Geschichte stimmt. Vielleicht nicht in allen Einzelheiten, aber im Kern. Der Wüstenwind und der Lärm der Granaten könnten das Gefecht zwischen den Rebellen und den Gaddafi-Kämpfern übertönt haben.
    Doch alles ist so unerwartet. Ich hatte Abdul Latif fast um seinen schnellen, plötzlichen Tod beneidet. In Wirklichkeit war er offenbar schwer verletzt ganz langsam gestorben. Die erste Stunde lang nur 1000 Meter von mir entfernt. Hatte ich mir nicht geschworen, nie einen Freund in Not allein zu lassen?
    Julia kann anscheinend Gedanken lesen. Noch immer zornig sagt sie: »Ich weiß, was du jetzt denkst. Dass du die Pflicht gehabt hättest, ihn zu suchen. Du wärst auch losgezogen. Aber das hätte niemandem genützt. Nicht einmal Abdul Latif. Nur die

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