Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Raketenschützen hätten sich gefreut, dass sie endlich gewusst hätten, wo wir sind. Sie hätten uns alle umgebracht. Du denkst, für dich wäre das auch vielleicht das Beste gewesen. Aber ich habe keine Lust zu sterben. Was du denkst, ist reiner Egoismus.«
Tief betroffen schweigen wir uns an. Es ist, als erlebten wir den 14. März, den Todestag Abdul Latifs, noch einmal. Mit ungeahnter Wucht.
Das Kriegsvideo des Gaddafi-Kämpfers
Alles ist merkwürdig. Auch dass Julia am selben Abend von einem Bekannten einen Videofilm erhält, der den Vormarsch der Gaddafi-Truppen auf Brega zeigt. Kurz vor dem 14. März. Ein Gaddafi-Kämpfer hatte ihn mit seiner Kamera aufgenommen. Sie wurde bei seiner Leiche gefunden. Der Film zeigt die Ereignisse des März von der anderen Seite.
Gaddafis Soldaten tragen auf dem Video keine Uniformen. Sie haben Parkas, Jeans oder Tarnhosen an. Sowie alte Stiefel oder Turnschuhe. Und dicke Wollmützen. Es scheint feuchtkalt zu sein. Der filmende Soldat ist etwa 22 Jahre alt und stets gut gelaunt. Er kämpft ja angeblich, wie seine Kameraden, für eine gute Sache. Gegen ausländische Eroberer und Al-Qaida. Auf allen Sendern der Welt hatte er gehört, dass man Al-Qaida bekämpfen müsse. Auch Gaddafi hatte das gesagt. Und Barack Obama. Bei den Rebellen aber gab es auch Al-Qaida-Kämpfer.
Frühmorgens geht seine Reise los. Richtung Ras Lanuf, der letzten größeren Stadt vor Brega. Verschlafen, verfroren sitzen die jungen Soldaten in ihren Jeeps und Toyotas. Man sieht, wie Ras Lanuf gestürmt und durchsucht wird. Die Rebellen haben die Stadt am Mittelmeer offenbar kurz zuvor verlassen.
Ein gut aussehender großer Junge in modischer Windjacke wird von Gaddafis Kämpfern aus einem Haus gezerrt. Drei Soldaten packen ihn am Kragen und führen ihn ab. Er blutet im Gesicht. Seine Jacke wird heruntergerissen. Hilfesuchend schaut er zu dem Hobbyfilmer. Doch niemand wird ihm helfen. Die Straßen sind leer. Im Hintergrund hört man Schüsse.
Die Kamera führt zu einem eilig ausgehobenen Grab am Straßenrand. In dem Erdloch sieht man einen jungen Mann mit halb geöffneten Augen. Daneben, im Wüstensand, zwei Leichen. Eine trägt Adidas-Turnschuhe. In Kürze wird man auch sie in das Loch werfen.
Auf der Straße liegt ein etwa vierzig Jahre alter Mann. Auf dem Rücken, mit ausgebreiteten Armen. Aus Bauch und Knien quillt Blut. Die Augen sind weit aufgerissen. Durch Fußtritte versuchen die Soldaten herauszufinden, ob er noch lebt. Mühsam schnappt er nach Luft. »Schmeiß den Hund ins Meer«, sagt eine Stimme. Der Krieg kennt keine Zwischentöne.
Bei einem Stopp präsentiert sich der Hobbyfilmer in Siegerpose. Mit hoch erhobenen Fäusten. Zur dunkelgrünen Jacke trägt er jetzt eine grüne Kappe und schwarze Handschuhe. Er hat sich für diese Szene extra umgezogen. Seine Truppe ist auf der Siegerstraße. Er ist vorne mit dabei. Das muss er filmen.
Die mit einer gelben Sandschicht bedeckte Fahrzeugkolonne wird immer größer. Plötzlich stößt Gaddafis Sohn Mutassim zu seinen Truppen. In einem blitzenden Lexus-Geländewagen. Durch das geöffnete Fenster nimmt er breit lächelnd den Händedruck seiner begeisterten Soldaten entgegen. Bevor er aussteigt, zieht er noch eine Tarnjacke an. Seinen Kopf verhüllt er mit einem kühnen Schal. Dann mischt er sich, ganz Wüstenkämpfer, unter seine Soldaten.
Mutassim ist sehr schlank und erheblich größer als seine Soldaten. Mit seiner lässigen Kampfkleidung, seiner dunklen Sonnenbrille und seinen hohen Springerstiefeln sieht er verwegen aus. Hillary Clinton wäre jetzt noch hingerissener als im April 2009 in Washington, als sie ihn wie ein kleines Mädchen anhimmelte. Nach wenigen Minuten schwingt sich Mutassim Gaddafi wieder in seinen Geländewagen und braust, Wüstenstaub aufwirbelnd, davon.
Der Wagenpulk unseres Hobbyfilmers führt inzwischen eine Kolonne Schwertransporter an, die mit russischen und italienischen Panzern beladen sind. Der furchterregende Treck ist kilometerlang. Sein Fahrtziel heißt Brega. Und dann Bengasi.
Unser Kriegsberichterstatter hat sich erneut umgezogen. Anstelle der dunkelgrünen Kappe trägt er nun um Stirn und Schultern einen abenteuerlichen hellgrünen Schal. Die Stimmung in seinem Auto ist ausgelassen. Vor ihnen liegt Brega, das die Männer Mutassim Gaddafis bereits in Brand geschossen haben. Aus Öltanks steigt dichter schwarzer Qualm auf.
Heute ist der 14. März. Gaddafis Kämpfer stehen jetzt 30 Kilometer westlich von
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