Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
sie für ein paar Stunden ein. Auch sie war in diesen Wochen allein. Sie arbeitete jeden Tag an einem kleinen Film für die Familie von Abdul Latif, den wir möglichst bald überbringen wollten.
Mein Plan, irgendwann einmal mit meinem Fast-Nachbarn Saif Al-Arab Gaddafi über die Ereignisse in Libyen zu sprechen, würde sich wohl nicht erfüllen. Nach Presseberichten wurde er am 30. April 2011 bei einem der »Zivilistenschutz-Angriffe« der NATO auf die Residenz seines Vaters getötet.
Unsere Versuche, Abdul Latifs Familie telefonisch zu erreichen, scheiterten lange. Gaddafi hatte das Internet und die internationalen Telefonverbindungen konsequent lahmgelegt. Erst Ende Mai gelang es Khaled, mit Bengasi Kontakt aufzunehmen. Kurz danach, Mitte Juni 2011, flogen wir nach Kairo.
Die 1200 Kilometer von Kairo nach Bengasi in einem einfachen Taxi waren beschwerlich wie immer. In der ägyptischen Küstenstadt Marsa Matruh machten wir Zwischenstation. Wohlhabende ägyptische Familien verbrachten hier Badeferien. Die Männer trugen lange, gepflegte Bärte. Die Frauen waren total verschleiert. Nur frühmorgens trauten sie sich ins kühle Nass. Geschützt durch mehrere Kleidungsschichten und Gesichtsschleier. Sie badeten höchstens zwei Minuten lang. Dann nahm sie eine ebenfalls verschleierte Begleiterin mit einem großen Badetuch in Empfang. Niemand sollte ihre Körperformen erraten können.
Das leicht ironische Schmunzeln auf unseren Gesichtern verschwand, als sich anschließend christliche Nonnen in vollem Gewand in die Fluten stürzten. Auch sie wären nie auf die Idee gekommen, im Badeanzug oder Bikini schwimmen zu gehen. Etwas beschämt gingen Julia und ich zum Frühstückstisch. Khaled lächelte wortlos, aber vielsagend.
Nach zwei Tagen waren wir spätabends im Ouzo-Hotel in Bengasi. Am nächsten Morgen stand Abdul Latifs ältester Sohn Khaldoun in der Hotelhalle vor uns. Staunend, ungläubig. »Sie haben uns nicht vergessen? Niemand kommt freiwillig nach Bengasi zurück.« Dann begann er, aufgeregt mit seiner Familie zu telefonieren. Nachmittags sollten wir sie besuchen.
Ahmad, Abdul Latifs Bruder, holte uns ab. Schweigend fuhren wir durch die Stadt. In Bengasi war fast Normalität eingekehrt. Statt Fahnen zu schwingen, gingen die Menschen wieder ihrer Arbeit nach. Nur die in den Farben der Revolution bemalten Bäume am Straßenrand erinnerten an den kollektiven Rausch der ersten Wochen.
Inzwischen waren auch die letzten Wandbilder Gaddafis überklebt. Nur auf 1- und 50-Dinar-Noten prangte noch sein Porträt als »Revolutionsführer«. Viele Libyer weigerten sich, diese Scheine auch nur in die Hand zu nehmen. Manche strichen sein Bild einfach durch.
Klopfenden Herzens betraten wir Abdul Latifs einfaches, aber blitzsauberes Haus. Wir wurden in den Gästeraum geführt. Dort übergab uns Ahmad feierlich zwei große Plakate mit dem Bild seines Bruders. Ich legte sie sorgfältig vor mich hin. Langsam füllte sich der Raum. Mit Brüdern, Söhnen und Freunden Abdul Latifs. Alle schwiegen.
Dann begann ich, von den letzten Tagen Abdul Latifs zu berichten. Jeder Satz tat weh. Seiner Familie und mir. Alles war wieder gegenwärtig. Ich spürte das Leid der Familie fast physisch. Ihre Schultern hingen tief nach unten, die Köpfe waren zu Boden geneigt. Über ihre Gesichter rannen unablässig Tränen.
Doch ich schuldete ihnen diesen Bericht. Ich erzählte von der Freude, die er verbreitete, von den Liedern, die wir sangen, von seinen Zukunftsplänen und von seiner fröhlichen Standardantwort auf alle unsere Bitten: »Why not – warum nicht?«
Als ich ende, herrscht Totenstille. Abdul Latifs engster Freund, jener Mann, den wir in Brega besuchen wollten, bricht das Schweigen. Er dankt uns, dass wir wiedergekommen seien. Abdul Latif habe uns tief ins Herz geschlossen. Alle wünschten, dass er uns heute begrüßen könnte. Abdul Latif habe ihn am Tag vor unserer Fahrt nach Brega mehrfach angerufen. Er wollte uns dort mit ihm zusammenbringen.
Aber ausgerechnet an jenem Tag habe er überraschend nach Bengasi gemusst, um einem Freund zu kondolieren. Seine Bekannten in Brega hätten geglaubt, der Weg sei frei, weil sich die Truppen Gaddafis kurz zuvor zurückgezogen hätten. Offenbar habe es sich jedoch nur um einen Teilabzug oder um eine Truppenverlegung gehandelt.
Er wisse um den unendlichen Schmerz der gesamten Familie. Abdul Latif sei ihre Seele, ihr Mittelpunkt gewesen. Doch heute seien alle stolz, dass wir Abdul Latif mit
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