Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
den Platz. Stürmischer, machtvoller, gewaltiger, als ich ihn je gehört habe. Dann herrscht wieder Stille.
In diesen Sekunden des Schweigens reißen auf einmal Tausende überwiegend junge Frauen die Arme zum Siegeszeichen hoch. Das berühmte helle »Halhula« trällernd, brechen sie in nicht enden wollenden Jubel aus. Es ist ein hinreißendes Schauspiel. Vor schemenhaft verschwommenen Palmen tauchen die weichen Strahlen der Morgensonne die Gesichter der Frauen in goldfarbenes Licht. Sie durchschimmern ihre roten, grünen und blauen Kopftücher und verleihen den Trägerinnen feenhafte Schönheit. Minutenlang trillern und jubilieren die Frauen. Sie ergreifen Besitz von diesem märchenhaft mystischen Augenblick und geben ihn nicht mehr her. Es ist, als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen.
Bis es dem verblüfften Imam, der auch zu Wort kommen will, zu viel wird. »Genug jetzt!«, donnert er in sein riesiges Mikrofon. Der irdische Jubel erstirbt, das himmlische Gebet beginnt. Im Zauber der Morgensonne entfaltet es seine eigene magische Faszination.
Ich denke an Abdul Latif. Wir würden jetzt gemeinsam unter diesen Menschen sitzen und beten. Um Segen bitten für das junge, neue Libyen. Um Trost für all die Familien, die geliebte Menschen verloren haben. Abdul Latif würde auch für die Familien der Gaddafi-Kämpfer beten. Er hat in ihnen nie Feinde, sondern immer Brüder gesehen.
Nach dem Gebet würde er sich bei mir, Julia und Belal unterhaken und mit uns durch die Stadt ziehen. Verschmitzt würde er uns daran erinnern, dass er stets vorausgesagt habe, dass 90 Prozent der Tripolitaner hinter den Rebellen stünden. Zumindest nach dem Fall der Hauptstadt. Warum durften wir diesen historischen Tag nicht mit ihm feiern? Oder wenigstens mit seinem Bruder Ahmad? Doch dessen Telefon schweigt.
Die Verlierer der Revolution
Zwei Stunden später sitzen wir in einem Taxi zurück nach Tunis. Unser Fahrer, ein ausgemergelter älterer Mann, ist vom vielen Feiern völlig übermüdet. Ständig fallen ihm die Augen zu. Abwechselnd rütteln Julia und ich ihn wieder wach. Seine Augen fallen vor allem bei Gegenverkehr zu. Das ist besonders gefährlich, weil er seinen Wagen dann stets nach links zieht.
Auf der Ausfallstraße von Tripolis entdecken wir neben einem Kontrollposten ein Café. Wir bitten den Fahrer, einen starken Kaffee zu trinken und sich die Beine zu vertreten. Wir wollen lebend nach Tunis.
Während wir warten, sehen wir, wie Rebellen aus Sintan einen gepflegten Mittelklassewagen anhalten. Sie zwingen den Fahrer und seinen etwa zehnjährigen Sohn, auszusteigen. Der Mann trägt einen dunklen Anzug und Krawatte. Das scheint Grund genug zu sein, ihn als Anhänger des Regimes zu verdächtigen. Die Rebellen schreien ihn an und verhöhnen ihn. Mit ihren Kalaschnikows treiben sie ihn vor sich her. Einer schlägt ihn mit dem Gewehrkolben zu Boden.
Selbst im Staub der Straße liegend, versucht der Mann im dunklen Anzug Haltung zu bewahren und freundlich zu bleiben. Vielleicht wegen seines Sohnes, der schluchzend neben ihm steht. Vielleicht auch aus Furcht, dass die Lage außer Kontrolle gerät. Brüllend, lachend, prügelnd zerren und treiben die Rebellen den Mann zu ihrer Kontrollbaracke. Flehend hängt sein Sohn sich an den Ärmel eines der Rebellen. Es sieht schlecht aus für seinen Vater. Das beschwörende Weinen seines Sohnes dringt auch noch aus der Baracke zu uns.
Welches ist das wahre Gesicht der Revolution? Der euphorische Jubel über die erkämpfte Freiheit, die ansteckende Aufbruchstimmung, die Bereitschaft der jungen Leute in Tripolis, Bengasi, Kairo, Tunis und Damaskus, alles neu und besser zu machen? Eine Stimmung, die Beethoven in der »Eroica«, seiner Revolutionssinfonie, genial in Musik übersetzt hatte – damals, als er noch an die Französische Revolution und an Napoleon glaubte? Oder sind Gewehrkolben, Terror, Zerstörung, Massaker und der sinnlose Tod Abdul Latifs das wahre Gesicht der Revolution?
Jeden Tag werde ich skeptischer. Der elegante Mann im Anzug, der gerade in die Rebellenbaracke geprügelt wurde, wird, wenn er Glück hat, sein Verhör überleben. Aber wird er dann nicht sein ganzes Leben lang die neuen Machthaber hassen, weil sie ihn vor den Augen seines Sohnes in den Staub getreten haben? Weil er am Boden liegend lächeln musste, um zu überleben? Was ist der Unterschied zwischen diesen Rebellen und den Schergen Gaddafis?
Gaddafis Tod
Im Herbst bringt die NATO auch Muammar Gaddafi
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