Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Gemüsehändler buhlten in ihren winzigen Geschäften um Kundschaft. Auf den überfüllten Straßen kämpften Schubkarren schiebende Kinder, Eselswagen, knatternde Rikschas und hupende Autos um ein Durchkommen.
Am Ortsausgang von Dschalalabad stieg ein ortskundiger Afghane zu. Der 40-jährige, stets freundlich lächelnde Paschtune trug einen schwarzen Turban mit feinen weißen Streifen. Er war unser Mittelsmann zu den Taliban. Wir hatten ihn aus Sicherheitsgründen engagiert.
Ein Bauernhof reihte sich nun an den anderen. Viele waren ausgebombt, dieses Mal nicht von den Russen, sondern von den Amerikanern. Die Männer, die vor ihren Hütten und Läden saßen, warfen uns finstere Blicke zu. Wir waren im Land der Taliban. Sie waren überall und nirgendwo. Eine Geisterarmee, kaum zu orten. Wie jene amerikanischen Tarnkappenbomber und Drohnen, gegen die sie kämpften. Unser paschtunischer Wegbegleiter lächelte mir freundlich zu.
Wir näherten uns Landa Kheil. Die Straße ging in einen unebenen, staubigen Lehmweg über. Wir wurden kräftig durchgerüttelt. Aber nicht nur deshalb waren wir jetzt hellwach, sondern auch wegen der zunehmend feindseligen Mienen der Dorfbewohner. Ausländer waren hier selten und unbeliebt. Sie hatten dem Land stets nur Not und Leid gebracht. Egal, woher sie kamen.
Als wir am Tor des kleinen Lehmhofes von Spoghmai und Esmatullah ankamen, waren wir sofort von einem Dutzend staunender Kinder und Erwachsener umringt. Esmatullah erklärte ihnen auf Paschtu, dass wir als Freunde gekommen waren. Dann schloss er schnell das Hoftor.
Im Spätherbst 2001 waren Spoghmai und Esmatullah – wie das ganze Dorf – Zeugen des Dauerbombardements auf die Höhlen von Tora Bora geworden. Sie sahen, wie dort Tag und Nacht die roten Blitze der Bomben, Raketen und Marschflugkörper einschlugen. Wie Leuchtmunition die Nacht zum Tag machte. Die Erde bebte auch in Landa Kheil. Tagsüber verdüsterten Rauchwolken die Sonne.
Die Familie wusste nicht genau, warum die »Ausländer«, die dort drüben in den Bergen wohnten, bombardiert wurden. Nachbarn hatten erzählt, Grund seien wahrscheinlich drei Flugzeugattentate auf Amerika wenige Wochen zuvor. Einer der Hauptverantwortlichen dieser Anschläge, Bin Laden, habe sich bei den »Ausländern« versteckt. Aber Genaueres wussten auch sie nicht. In Landa Kheil gab es weder Telefon noch Fernsehen.
Spoghmais und Esmatullahs Eltern hatten nie Kontakt zu den Taliban oder Al-Qaida gehabt. Die »Ausländer« waren zwar gelegentlich zum Einkaufen nach Landa Kheil gekommen, aber sie hatten zurückgezogen gelebt. Als Esmatullah damals erfuhr, dass bei den Anschlägen auf New York mehrere tausend unschuldige Menschen getötet worden waren, war er wie seine Eltern entsetzt. »Niemand hat das Recht, anderen Menschen etwas Derartiges anzutun«, ist seine Auffassung auch heute noch.
Irgendwann schien das Dauerbombardement auf Tora Bora vorbei zu sein. Das Leben begann wieder seinen normalen Lauf zu nehmen. Doch plötzlich wurde auch Landa Kheil angegriffen. Warum, wissen Spoghmai und Esmatullah bis heute nicht. US -Bomber donnerten im Tiefflug über das Dorf und warfen ihre tödliche Fracht ab. Mit ohrenbetäubendem Lärm, gewaltige Staub- und Rauchwolken aufwerfend, schlugen kurz hintereinander zwei Raketen in ihrem Haus ein.
Ihre Mutter, ihr Vater sowie ihre drei Schwestern waren sofort tot. Esmatullah wurde durch Glassplitter am Auge verletzt, Spoghmai am Hinterkopf und an der Hand. Lediglich der damals sechsjährige Zahidullah und der erst sechs Monate alte Hidschrat überlebten fast unverletzt. Das Baby wurde samt dem Körbchen, in dem es lag, aus dem Schlafzimmer in den Hof geschleudert.
Spoghmai und Esmatullah, dessen rechtes Auge seltsam matt ist, haben den Tod ihrer Eltern und ihrer Geschwister nicht verarbeitet. Wenn sie über die Bombennacht sprechen, werden ihre leisen Stimmen noch leiser. Zwar haben sie gelernt, ihren Schmerz vor ihren beiden kleineren Brüdern zu verbergen. Aber in ihren Augen liegt unendliche Trauer – und großer Ernst. Sie müssen ihren Brüdern die Eltern ersetzen, eine Verantwortung, die sie fast erdrückt.
Jeden Tag stehen sie im Morgengrauen auf, um nach dem Gebet für die Familie zu sorgen. Spoghmai wäscht ihren kleinen Bruder und macht das Frühstück – gesüßten Tee und Brot, manchmal auch Eier. Esmatullah geht möglichst früh auf seinen kleinen Acker, um die Kühle des Morgens zu nutzen. Er hat Mais und Erdnüsse
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