Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
zugestimmt. Er habe eine Stunde Zeit. Dann müsse er damit rechnen, dass die Nachricht über seine Anwesenheit zu den US -Streitkräften durchgesickert sei.
60 Minuten lang stelle ich ihm bohrende Fragen. Nach Selbstmordanschlägen, nach der Tötung von Zivilisten, nach der Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI und nach den langfristigen Zielen der Taliban. Präzise, kurz und ernst beantwortet er alle Fragen.
Mullah Nasrat erzählt, er habe sich zum Widerstand entschieden, als eines Nachts amerikanische Soldaten in sein Dorf eingefallen seien. Sie hätten die Häuser einschließlich der Frauengemächer rabiat durchsucht und wahllos Männer verhaftet. Die säßen teilweise heute noch in amerikanischen Gefängnissen. Die USA hätten inzwischen Zehntausende unschuldige Afghanen umgebracht. Auch viele Kinder. Irgendwann habe er das alles nicht mehr ertragen. Jeder Mensch habe ein Recht auf Widerstand und Notwehr gegen krasses Unrecht. Vor allem bei unberechtigten ausländischen Aggressionen. Als der Sohn Maulawi Khales’ zum Widerstand aufgerufen habe, sei er dem Ruf gefolgt.
Der Westen nenne alle Widerstandskämpfer in Afghanistan Taliban. Doch es gebe völlig unterschiedliche Arten von Taliban: Die erste Gruppe seien die wahren »afghanischen Taliban« , denen er angehöre. Sie hätten in den letzten Jahren viel dazugelernt. Sie griffen, so Mullah Nasrat, grundsätzlich nur US -Streitkräfte an – keine Zivilisten. Erst recht keine ausländischen Organisationen, die Afghanistan respektierten und unterstützten. Mullah Omar habe erst kürzlich nochmals ausdrücklich verboten, Zivilisten anzugreifen. Die afghanischen Taliban seien Freiheitskämpfer und keine Terroristen.
Sie würden vor allem von der einfachen Bevölkerung unterstützt. Doch die Menschen in Afghanistan seien arm. Manche seiner Kämpfer könnten sich nicht einmal richtige Schuhe leisten. Ich sehe, dass der vermummte Talib an der Tür fast die gleichen Turnschuhe trägt wie ich. Aber seine sind billige Imitate und zerrissen. Sie werden nur mühsam durch Schnürsenkel zusammengehalten.
Mullah Nasrat betont, die afghanischen Taliban bräuchten keinen Kontakt zum pakistanischen Geheimdienst ISI . Sie kämpften nur für ihr eigenes Land. Die Gruppe, die er in Tora Bora führe, bestehe aus etwa 20 Mann. In dem Kampfgebiet, für das er spreche, gebe es 40 solcher Gruppen. Auch Frauen gehörten ihnen an. Einige der 40 Gruppen, für die er spreche, gehörten zur Hizb-i Islami von Gulbuddin Hekmatyar. Mit diesen gebe es inzwischen eine funktionierende Zusammenarbeit.
Die zweite Gruppe bildeten die vor allem aus den Stammesgebieten in Pakistan kommenden »pakistanischen Taliban« . Sie hielten sich nie länger an einem Ort auf und seien ständig in Bewegung. Soweit sie gegen die Amerikaner kämpften, würden sie vom pakistanischen Geheimdienst ISI geduldet und teilweise auch gefördert.
Sie seien radikal und rücksichtslos. Sie hätten sogar die afghanischen Taliban wiederholt als Nichtmuslime bezeichnet und verfolgten sie manchmal mit großer Brutalität. Sie töteten Zivilisten, brennten Schulen ab und griffen ausländische Organisationen an.
Die echten afghanischen Taliban versuchten, wo immer sie könnten, auf die pakistanischen Taliban Einfluss zu nehmen und ihnen klarzumachen, dass der Koran das Töten von Zivilisten verbiete. Aber sie könnten nicht alles verhindern. Viele dieser Leute seien einfach verblendet, manche auch verbohrt.
Die dritte Gruppe seien die von den USA »gekauften Taliban«. Die Amerikaner würden systematisch junge, arbeitslose Afghanen anwerben. Sie mischten sich unter die echten Taliban und unter die einfachen Leute. Sie hätten den Auftrag, sich als Taliban auszugeben, die afghanischen und pakistanischen Taliban auszuspähen sowie mit mörderischen Anschlägen gegen Zivilisten den USA den Vorwand für Militäraktionen zu liefern.
Die Amerikaner verfolgten in Afghanistan nur ihre eigenen Interessen. Kein Afghane glaube, dass sie Hunderte von Milliarden Dollar ausgäben, um Afghanistan Demokratie und Freiheit zu schenken.
Die von den USA gekauften Taliban seien schwer zu identifizieren. Man erkenne sie höchstens daran, dass sie oft mehr Geld sowie bessere Waffen und Fahrzeuge besäßen als die afghanischen und pakistanischen Taliban. Außerdem würden sie nach Festnahmen meist schnell wieder freigelassen. Er schätze die Zahl der »gekauften Taliban« in seinen drei Provinzen auf etwa 100 Mann. Sie griffen
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