Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Amerikaner das weiter sagen, grabe ich die toten Kinder mit meinen bloßen Händen wieder aus.« Dann höre ich nur noch verzweifeltes Schluchzen.
Am Abend sehe ich wieder afghanische Nachrichten. Erneut erklärt der Sprecher der US -Streitkräfte, man habe in Asisabad 30 Taliban ausgeschaltet. Dabei könne es unter Umständen auch ein oder zwei zivile Opfer gegeben haben.
Am nächsten Tag bin ich beim afghanischen Präsidenten Karsai. Wir kennen uns seit 1989. Ich hatte in jenem Jahr in Urgun, einem kleinen afghanischen Hindukusch-Dorf, die erste Sitzung der Exilregierung auf afghanischem Boden organisiert. Damals waren in Kabul noch die Kommunisten an der Macht. Karsai war Assistent des Präsidenten der Exilregierung, Sibghatullah Al-Modschaddedi.
Ich frage ihn, warum er nicht härter gegen derartige Massaker an afghanischen Zivilisten protestiere. »Aber ich protestiere doch ständig«, wehrt sich Karsai. »Viel zu leise«, antworte ich. »Es entsteht der Eindruck, Sie hingen von den Amerikanern ab.«
Karsai schaut mich entgeistert an: »Aber was glauben Sie denn, von wem ich abhänge. Natürlich von den Amerikanern. Ich habe keine Armee. Jedes Mal, wenn ich gegen diesen Wahnsinn protestiere, gibt es monatelang Ärger.«
»Sie müssen noch lauter protestieren. Sie sind Präsident der Afghanen, nicht der Amerikaner«, lege ich nach. Ich denke, als der Ältere kann ich mir derartige Ratschläge erlauben. Aus früheren Gesprächen weiß ich, dass Karsai mir meine Offenheit nicht übel nimmt.
Am nächsten Abend sehe ich in den afghanischen TV -Nachrichten, wie Karsai in Asisabad auf den vor Gram gebeugten Gul Ahmad zugeht. Dann liegen sich die beiden Männer in den Armen und weinen. George W. Bush wird diese Tränen nie verstehen.
Von diesem Tag an protestiert Karsai bei Angriffen der NATO auf afghanische Zivilisten noch kompromissloser. Und von da an bezeichnen ihn führende amerikanische Politiker zunehmend als Problem.
Spoghmai und Esmatullah
Ein Jahr später, im August 2009, bin ich in Landa Kheil, einem Dorf der Hindukuschregion Tora Bora. In dem kleinen Flecken leben etwa 50 Familien. »Dort drüben hatte Osama Bin Laden sein Versteck«, erklärt uns der 19-jährige Esmatullah leise. Er zeigt auf einen in der Ferne liegenden grünen Berghang. »Zu Fuß sind es zwei Stunden«, fügt er hinzu.
Zusammen mit seiner zwölfjährigen Schwester Spoghmai stehen wir an der Lehmmauer ihres kleinen Gartens. Esmatullah ist ein schmächtiger, in sich gekehrter Junge. Er sieht aus, wie man sich den jugendlichen Gregory Peck vorstellt. Die anmutige, in einen lichtgrünen Schleier gekleidete Spoghmai ist noch scheuer als er. Ihre großen, dunklen Augen haben in ihrem kurzen Leben schon viel zu viel gesehen. Die beiden bitten uns in ihr Lehmhaus.
Hier ist es kühl und still. Nur das Meckern einer kleinen Ziege, die in der sengenden Sonne vergeblich nach Gras sucht, dringt in das Halbdunkel des schlichten Gästeraums. Spoghmai bringt uns köstlich frisches Wasser. Dankbar nehme ich einen Schluck. Spoghmai und ihr Bruder trinken nichts. Es ist Fastenzeit, Ramadan. Leise erzählen die beiden ihre Geschichte.
Ich habe eine anstrengende Fahrt hinter mir. Im Morgengrauen war ich mit einem afghanischen Fahrer und einem Übersetzer Richtung Tora Bora aufgebrochen. Schon nach wenigen Minuten wurde uns drastisch vor Augen geführt, welch unerbittlicher Krieg hier tobte: In den Vororten Kabuls kam uns ein Militärkonvoi mit 20 Tiefladern entgegen. Sie transportierten zerstörte amerikanische Schützenpanzer und andere Militärfahrzeuge aus dem Kampfgebiet Kunar nach Bagram. Eine Kurzfassung des Krieges au f T iefladern!
Wir fuhren Richtung Dschalalabad im Osten des Landes. Entlang dem Kabul-Fluss, der hier nur ein algig trübes Rinnsal war. Die erst kürzlich von Chinesen mit EU -Geldern instand gesetzte Asphaltstraße war wie viele Verkehrswege des Landes durch die Spurrillen schwerer Militärfahrzeuge schon wieder reparaturbedürftig. In Serpentinen wand sie sich durch die waldlosen Berge, die wie schlafende Bären wirkten. Ihre Ausläufer ähnelten Tatzen, die gierig nach dem Wasser des immer breiter werdenden, nun türkis funkelnden Flusses griffen. Am Straßenrand immer wieder Dorfruinen. Steinerne Erinnerungen an den zehnjährigen Krieg der Sowjetunion. Die früheren Bewohner waren nie zurückgekehrt.
Endlich waren wir in Dschalalabad, einer brodelnden orientalischen Handelsstadt. Stoff-, Schuh-, Obst- und
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