Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
gehören zum Alltag dieses Landes. Die afghanischen Taliban waren es kaum. Gastfreundschaft ist den Paschtunen heilig.
Draußen ist es dunkel geworden. In der Nähe des Ortes Sarobi lenkt unser Fahrer den Jeep über einen steinigen Weg ans Ufer des Kabul-Flusses. Meine muslimischen Begleiter haben wegen des Ramadan den ganzen Tag nichts gegessen und nichts getrunken. Jetzt dürfen sie das Fasten brechen. Ein romantischeres Picknick als hier am Kabul-Fluss kann man sich nicht vorstellen.
Bevor unser Fahrer mit dem Essen beginnt, geht er noch einmal zu seinem Geländewagen. Aus dem Laderaum holt er eine kleine Ziege. Minutenlang lässt er sie am Fluss ihren Durst löschen. Ich frage ihn, woher die Ziege komme. Er erwidert, Spoghmai und Esmatullah hätten sie mir geschenkt, weil sie mir wegen des Ramadans nichts anbieten konnten.
Mir stockt der Atem. Selten haben mich zwei junge Menschen so beschämt wie die zwei Habenichtse Spoghmai und Esmatullah. Diese zwei Kinder, die so gerne Kinder wären, aber Eltern sein müssen.
Am späten Abend erhalten wir in unserem Hotel einen Anruf. Am Apparat ist Talibanführer Mullah Nasrat. Er hat von dem Sprengstoffanschlag gehört. Er scheint besorgt und will wissen, ob wir gut angekommen sind.
Die Tat des Oberst Klein
Mein damals 19-jähriger Sohn Frédéric hatte im Winter 2003/2004 in Kabul fünf Monate lang kriegsversehrte afghanische Kinder unterrichtet. Er hatte ihnen gezeigt, wie man mit Computern umgeht, und ihnen Englisch beigebracht. Manchmal war er auch quer durch Afghanistan gefahren, obwohl ich ihm das verboten hatte. Dann hatten seine Freunde eine große deutsche Fahne auf die Motorhaube geklebt. Damit kam man damals gut durchs Land. Selbst durch die Taliban-Hochburgen Kandahar und Kunar.
Die Deutschen waren in Afghanistan beliebt. Sie hatten jahrzehntelang uneigennützig Entwicklungshilfe geleistet und traten nicht wie Machos auf. Wenn deutsche Soldaten in Kabul einkauften, fuhren sie nicht – wie manche GI ’s – in Panzerfahrzeugen vor. Sie vertrieben nicht mit ihren Maschinenpistolen die übrigen afghanischen Käufer, um eine Cola oder ein paar Kaugummis zu kaufen. Sie traten nicht als Herren der Welt auf.
Doch dann kommt die Tat des deutschen Oberst Georg Klein in Kunduz. Knapp zwei Wochen nach meiner Fahrt nach Tora Bora. Als in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 zwei von den Taliban entführte Tanklastzüge im Kunduz-Fluss stecken bleiben, lässt Oberst Klein sie von US -Kampfjets bombardieren. Obwohl für ihn erkennbar zahllose Afghanen um die Fahrzeuge herumstehen. Nach Angaben des Dorfältesten sterben dabei 137 Afghanen. Darunter 36 Kinder im Alter von fünf bis 16 Jahren. Es ist eines der drei größten Massaker des Afghanistankrieges.
Nur fünf der Toten sind Taliban. Getreu dem Motto einiger westlicher Kriegsherren: »Tötet alle, Allah wird die Seinigen schon finden!« 163 Mädchen und Jungen werden Waisen. Ein Zwillingspärchen wird nur wenige Tage nach dem Tod seines Vaters geboren. Ihre Mutter nennt den Jungen Gul Agha, das Mädchen Sara. Gul heißt Blume, Sara Prinzessin.
Wie konnte es zu dieser menschlichen und militärischen Katastrophe kommen? In Afghanistan gibt es nicht viele Brücken. Autos, Busse und Lastkraftwagen durchqueren die Flüsse daher oft an flachen Furten. Manchmal bleiben sie stecken und werden aufgegeben. In Flüssen festsitzende Fahrzeuge sind schwer wieder flottzubekommen. Die Menschen machen sich dann auf, um etwas von den Dingen zu ergattern, die in den Fahrzeugen zurückgelassen wurden. Lebensmittel, Kleidung und manchmal auch Treibstoff. Wer durch Afghanistan fährt, wird in den Flüssen immer wieder stecken gebliebene Fahrzeuge sehen. Manchmal klettern noch Monate später Kinder auf ihnen herum, um etwas Verwertbares zu finden. Das ist Alltag in Afghanistan. Wer das Land kennt, weiß das.
Doch woher sollten ausländische Soldaten Afghanistan kennen? Drei Viertel der Soldaten kommen nie aus ihrem Camp heraus. Und die wenigen, die auf Patrouille fahren, verlassen kaum noch ihre Einsatzfahrzeuge.
Oberst Klein ist Kommandeur des »regionalen Wiederaufbauteams« in Kunduz. Er sitzt in dieser Nacht 15 Kilometer vom Kunduz-Fluss entfernt in seinem Bundeswehr-Camp. Dort wird er über die im Flussbett steckenden Tanklastzüge informiert. Er meldet wahrheitswidrig »Feindkontakt« und fordert US -Bomber an. Die Jets übertragen in Echtzeit Filmaufnahmen auf Kleins Kommandostand. Der Oberst sieht, dass sich
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