Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
verabschiedeten Amnestie ist er frei. Aber Sie tragen die Verantwortung, dass er niemanden umbringt.«
Der nächste Gefangene ist ein 33-jähriger Mann mit gepflegtem schwarzem Vollbart. Er trägt Bermuda-Shorts. Mit seinen dunklen Knopfaugen wirkt er recht sympathisch. Ihm wird vorgeworfen, in Homs mit Al-Dschasira und einer westlichen Journalistin konspirativ zusammengearbeitet zu haben. Er habe Al-Dschasira gegen Geld stets die gewünschten Opferzahlen genannt.
Mit meinen Augen suche ich Hände, Beine und Gesicht des jungen Mannes nach Folterspuren ab. Ich kann keine erkennen. Außerdem scheint der junge Mann, obwohl er eingeschüchtert wirkt, ein fast kumpelhaftes Verhältnis zu seinem Bewacher zu haben. Doch das ist in vielen Gefängnissen so. Gerade wenn gefoltert wird. Fast abwesend spielt er mit seinem Bart. Auch er hofft, unter die Amnestie Assads zu fallen. Er sehnt sich nach seiner Frau und seinen Kindern.
Ich versuche, auch für ihn ein gutes Wort einzulegen, ohne die Zusage für den 14-jährigen Jungen zu gefährden. Ganz so schlimm sei die Geschichte mit den für Al-Dschasira übertriebenen Zahlen ja nicht, erkläre ich vorsichtig. Auch das syrische Fernsehen übertreibe ja und bezahle seine Mitarbeiter dafür. Der Gefängnischef lacht gequält. Für einen besonders schweren Fall hält er den jungen Mann allerdings nicht.
Für den nächsten Gefangenen gilt das nicht. Er ist Mitte vierzig, groß, grauhaarig und gut genährt. Beim Betreten des Raums salutiert er vor dem Bild Assads. Es wird ihm nichts nützen. Der Mann in Joggingkleidung und Sandalen soll einen Soldaten ermordet und mit einem Säbel in Stücke gehauen haben. Warum, wisse er nicht mehr genau.
Nun wartet der Familienvater auf seinen Prozess. Er wird wohl zum Tode verurteilt werden. Das weiß er. Trotzdem ist er ganz ruhig. Ich stelle ihm, anders als den beiden jungen Leuten, nur wenige Fragen. Ich weiß nicht, was ich ihn fragen soll. Nach einer knappen halben Stunde wird er abgeführt. Wieder grüßt er das Foto des Präsidenten. Dann ist der seltsame Rebell verschwunden.
Sind die Geschichten, die die drei Gefangenen mir erzählt haben, wahr? Oder haben sie mir eine Geschichte vorgespielt, die man ihnen kurz zuvor eingebläut hatte? Viel Zeit hätte der Geheimdienst allerdings nicht gehabt. Ich hatte meine Wünsche ja erst im Informationsministerium präzisiert.
Der Marxist Al-Khayyer
Am nächsten Tag treffen wir uns im Hotel mit dem alten Marxisten Abdul Aziz Al-Khayyer. Er saß neun Jahre unter Hafiz Al-Assad und fünf Jahre unter Baschar Al-Assad im Gefängnis. Er ist Arzt und eine Symbolfigur der friedlichen, demokratischen Opposition. Ein beeindruckender Mann mit großen, melancholischen Augen.
Alle Dinge, die er trägt und bei sich hat, scheinen aus der Zeit vor seiner Verhaftung zu stammen. Sein Anzug, seine Brille, seine Ledertasche. Alles erinnert an vergangene Tage. Offenbar sehnt er sich nach jenen Jahren als junger Arzt zurück, bevor sich die Gefängnistore für 14 Jahre hinter ihm schlossen.
Al-Khayyer ist ein sanfter, bescheidener Mann. Sein Lächeln ist von großer Traurigkeit. Als spiegle es die Zukunft seines zerrissenen Landes. Ich frage ihn, ob es nicht gefährlich sei, mit uns offen und kritisch zu sprechen. Nach 14 Jahren Gefängnis habe man keine Angst mehr, erwidert er leise.
Er erklärt uns, dass es letztlich drei große Oppositionsgruppierungen gebe: die seit vielen Jahren in kleinen Parteien organisierte demokratische innersyrische Opposition. Sie setze auf Verhandlungen mit allen. Mit den Rebellen, aber auch mit der Regierung. Ihr gehörten nationalistische, linke, liberale, aber auch islamische Parteien an. Auch er. Leider seien sie im Ausland fast unbekannt. Wahrscheinlich, weil sie nur syrische, aber keine westlichen Interessen verträten. Sie seien jahrelang verboten gewesen.
Im Westen hofiere man vor allem die Exil-Opposition, zum Beispiel den »Syrischen Nationalrat« mit Sitz in Istanbul. Der aber spiele in Syrien keine Rolle. Er gelte als Erfindung des Westens.
Erheblich einflussreicher seien die zahlreichen bewaffneten Rebellengruppen in Syrien. Sie erwarteten vom Westen Waffen. Manche auch eine militärische Intervention.
Ich frage ihn, was er von Assad halte. Eigentlich nicht viel, antwortet er. Letztlich habe er die Eskalation der Gewalt mit zu verantworten. Genauso wie die Baath-Partei, für die er noch weniger Sympathien habe.
Allerdings wisse er, dass es nur mit Assad die Chance
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