Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Mann mit Glatze. Er erzählte, dass er auf den Straßen von Homs als Getränkeverkäufer gearbeitet habe. Er sei auf der Fahrt nach Hause gewesen, als ihn ein Auto mit fünf vermummten Männern gestoppt habe. Sein Beifahrer habe die Männer angefleht, sie zu verschonen. Er wurde einfach zusammengeschlagen.
Ali wurde aus dem Auto gezerrt und in den Wagen der Kidnapper gestoßen. Sie brachten ihn in ein altes Haus. Im Bad sah er Hemden und Hosen voller Blut. Dann begann das Verhör. Seine Entführer schlugen ihn mit schweren Knüppeln. Man warf ihm vor, Schiit und damit Kollaborateur des Regimes zu sein.
Er bot den Entführern sein Geld, sein Auto, sein Haus an. Doch sie droschen immer weiter auf ihn ein. Dann begannen sie, mit Messern auf ihn einzustechen. Auf seine Beine, seinen Oberkörper. Als er zu Boden ging, traten sie auf ihn ein. Ein Bewohner seines Viertels, den sie Scheikh nannten, kam hinzu. Ali kannte ihn. Er bettelte ihn an, ihm zu helfen. Doch der Scheikh schüttelte den Kopf. Er wisse genau, wer er sei. Dann befahl er den Entführern: »Schneidet ihn in Stücke!«
Während der massige Mann die Geschichte seiner Folter erzählte, liefen ihm unentwegt Tränen übers Gesicht. Wir machten eine lange Pause, bis er weitererzählen konnte.
Fünf Stunden dauerte die Folter. Dann hielten ihn seine Entführer für überführt. Sie fragten, ob er schon gebetet und sich gewaschen habe. Als er nickte, zogen sie ihn nackt aus. Dann legten sie einen Koran und ein langes Messer auf einen Tisch, um mit der Schlachtung zu beginnen.
In diesem Augenblick stürzte ein sunnitischer Bekannter, der ebenfalls aus dem Viertel stammte, ins Zimmer. »Wenn ihr töten wollt, dann tötet mich! Er ist mein Freund. Er ist unschuldig!« Eine wilde Schreierei begann. Immer wieder warf sich der sunnitische Freund dazwischen. »Wenn er stirbt, will auch ich sterben.« Wenn sie das Messer zückten, ging er dazwischen. Auch er wurde verletzt.
Schließlich verlangten die Entführer Alis gesamtes Geld. Für 15000 Dollar ließen sie ihn frei. Sein sunnitischer Freund brachte ihn nach Hause. Nachdem Nachbarn seine schweren Wunden notdürftig verbunden hatten, packte er ein paar Habseligkeiten zusammen und floh nach Damaskus.
Frédéric und mir war inzwischen speiübel. Ich fragte Ali trotzdem, ob ich seine Wunden sehen könne. Er zeigte mir lange, tiefe Narben an Armen und Beinen. Der Mann hatte untertrieben. Die Schlachtung hatte längst begonnen, als sein Freund ins Zimmer stürzte.
Mich nahmen derartige Erlebnisse sehr mit. Doch ich wusste, dass ich der Realität dieses Krieges – und aller Kriege – nur näher kommen konnte, wenn ich mit möglichst vielen Opfern und Augenzeugen an möglichst vielen Orten Syriens sprach. Und wenn ich dabei immer neue Mittelsmänner einsetzte. Mitglieder der demokratischen Opposition, bewaffnete Rebellen, Vertreter der schweigenden Mehrheit, aber auch Anhänger der Regierung. Ich musste alle Seiten anhören.
Daher bat ich einen der Regierung nahestehenden jungen Mann, mir zu helfen, in ein staatliches Krankenhaus zu kommen. Ich wollte verletzte Soldaten und Zivilisten besuchen. Mir wurde allein schon bei dem Gedanken daran schlecht. Doch nachdem ich in Homs in einem Krankenhaus der Rebellen war, wollte ich in Damaskus auch ein Krankenhaus der Regierung sehen.
Ich empfand für verwundete Soldaten genauso viel Mitleid wie für verletzte Zivilisten. Zum Beispiel für den jungen sunnitischen Zugführer, der in einem stickigen Zimmer des Hospitals regungslos vor mir lag. Eine Kugel hatte ihn im Rücken getroffen. Er wird für immer gelähmt bleiben. Er starrte zur Decke. Seine Jugend, eine Familie, ein normales Leben – all das war vorbei. Er wusste nicht einmal, ob seine Eltern in der Lage waren, einen Rollstuhl zu kaufen.
Ein Zimmer weiter saß ein ins Leere lächelnder Mann. Er war Anfang fünfzig, Alawit. Zusammen mit zwei Freunden war er von Rebellen entführt worden. Seinen Freunden wurde vor seinen Augen die Kehle durchgeschnitten. Er wurde stundenlang gefoltert. Sein Kopf, den seine Peiniger zum Boxtraining als »Punchingball« benutzten, zeigte Spuren schwerer Misshandlungen. Er stammelte unverständliche Dinge. Er hatte den Verstand verloren. Seine Frau, die neben seinem Bett stand, bat verschämt um Entschuldigung.
Ich verabschiedete mich und ging schnell in ein anderes Zimmer. Auf einer Liege sah ich eine unendlich traurige junge Frau. Sie trug einen modischen, blau-weiß gestreiften
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