Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Mann, dass Julia am ganzen Körper verletzt sei und blute. Dass sie fast vergewaltigt worden sei. Er bleibt unerbittlich. Ich stehe kurz davor auszurasten.
Erst als ich wütend die Polizei einschalte, darf Julia nach einer halben Stunde verzweifelten Wartens ins Hotel. Auf ihrem Zimmer kann sie beginnen, ihre Wunden zu reinigen. Am ganzen Körper hat sie offene Schlag- und Kratzwunden und überall schwere Hämatome.
Anschließend bringen wir sie zum Arzt des Hotels. Vernehmungsbeamte kommen hinzu. Durch die halb offene Tür sieht Julia einen bärtigen Mann in langen weißen Unterhosen. In Panik fragt sie, was der Mann da draußen wolle. Er warte auf die Hose, die er ihr geliehen habe, erklärt der Vernehmungsbeamte. Er wisse nicht, wie er seiner Frau erklären solle, warum er nachts ohne Hose nach Hause komme. Alle lachen. Nur Julia nicht.
Der Beamte erzählt ihr, dass er auf Al-Dschasira von dem Überfall gehört habe. Da sei sie allerdings noch eine Türkin gewesen. »Ja, Al-Dschasira«, murmelt Julia, »die sind ja immer ganz nah dran.« Dann erklärt er ihr, dass der Tahrir-Platz inzwischen eine »polizistenfreie Zone« sei. Die Polizei sei ausdrücklich unerwünscht. Deshalb komme es häufig zu Gewalttätigkeiten durch Schlägerbanden der gestürzten Regierung. Aber auch durch ganz gewöhnliche Kriminelle.
»Sie könnten jetzt tot sein, Julia«, sagt er leise. »Wissen Sie das, wissen Sie das wirklich?« Julia weiß es. Ich auch.
In der Zwischenzeit bekomme ich in der Hotelhalle Besuch von mehreren Gruppen junger Leute. Alle bitten um Verzeihung. Manche sogar schriftlich. Die Täter seien bezahlte Schläger der Konterrevolution gewesen, Baltagiyas , sagen sie. »Sie wollen mit ihren Angriffen auf Ausländer die Revolution in Verruf bringen.«
Ich bin mir da nicht mehr ganz so sicher. So viele tausend Baltagiyas kann ich mir schwer vorstellen. Da waren wohl auch andere dabei. Revolutionen sind stets auch ein Tummelplatz Krimineller. Schon Gustave Le Bon hatte das für die Französische Revolution ausführlich beschrieben. 65 Außerdem muss der, der die Polizei von öffentlichen Plätzen vertreibt, anschließend eben selbst für Sicherheit sorgen.
Julias Vernehmung dauert bis 4 Uhr morgens. Dann darf sie wieder in ihr Zimmer. Ihre physischen Wunden werden verheilen. Ihre seelischen Wunden nicht alle. Obwohl ihr all die jungen Leute guttun, die sie auch am nächsten Tag besuchen und sich bei ihr entschuldigen.
Besonders jene 15-köpfige Gruppe, die – teils verschleiert, teils in Jeans und T-Shirts – mit ihren Kindern im Hotel auftaucht. Als ihr die Kleinen schüchtern Blumensträuße überreichen, füllen sich Julias Augen wieder mit Tränen. Diesmal sind es Tränen der Freude. Das ist die helle Seite der Revolution.
Am späten Nachmittag machen wir unseren Dokumentarfilm fertig. Wir haben kaum geschlafen. Ganz in der Ferne höre ich mich mit hohler Stimme reden. Julia versucht zu lächeln. Nur jetzt nicht aufgeben. Nicht zeigen, was in uns vorgeht.
65 Gustave Le Bon: La Revolution Française et la Psychologie des Revolutions , Paris 1912, S. 88 f.
V.
Die syrische Tragödie
Syrien mit Frédéric
Syrien und seine Menschen ließen mich nicht mehr los. Auch meine Selbstzweifel wollten nicht enden. Nicht alles konnte falsch sein, was gegen das Regime geschrieben wurde. Ich beschloss, Ende März 2012 erneut nach Damaskus und Homs zu reisen. Diesmal mit meinem Sohn Frédéric. Ich wollte sehen, wie er dieses Land erlebte, das mir immer rätselhafter wurde. Und das zunehmend in seinem Bürger- und Religionskrieg versank.
Das große TV -Interview mit dem syrischen Präsidenten hatte sich offenbar erledigt. Ein Interview Assads mit dem amerikanischen Fernsehsender ABC , geführt von der berühmten US -Journalistin Barbara Walters, war für das Regime zum Desaster geworden. Statt der angeblich versprochenen 45 Minuten hatte der Sender Ende 2011 ganze viereinhalb Minuten ausgestrahlt. Die hatte er mit Schreckensbildern unterlegt. Assad wurde als törichter Zyniker dargestellt. Er beschloss, westlichen Sendern keine Interviews mehr zu geben.
Außerdem hatte die syrische Regierung fast zum gleichen Zeitpunkt gegen unseren »Weltspiegel«-Beitrag Protest eingelegt. Die ARD hatte mich sorgenvoll darüber informiert. Scheherazad, die Barbara Walters, Julia und mich betreut hatte, war angeschlagen. Wenige Monate später kehrte sie in die USA zurück. Ich habe nie mehr etwas von ihr gehört.
Mir war klar, dass
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