Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Pulli. Zugedeckt war sie mit einer leuchtend roten Wolldecke. Als wir freundlich grüßten, versuchte sie zu lächeln. Doch ihr Gesicht blieb bitter. Sie hieß Khalisa und war 24 Jahre alt. Sie durchlief gerade eine Ausbildung zur Opernsängerin, als eine verirrte Kugel ihre Träume beendete.
Khalisa wohnte in Duma, einem Vorort von Damaskus. Hier kam es häufig zu Gefechten. Ihre Wohnung lag in der Nähe von Militärbaracken. Eines Tages kam es vor ihrem Haus zu einer Schießerei. Sie war in der Küche, als eine Kugel das Fenster durchschlug und sie in die Brust traf. Wer geschossen hat, wusste sie nicht. Es war ihr auch egal.
Ich erzählte ihr, dass ich Opern liebte. Und fragte sie, ob sie uns etwas vorsingen könne. Nur ein paar Takte. Schweigend schüttelte sie den Kopf. Ihre Augen wurden noch trauriger. Ich versuchte, die Stimmung aufzulockern, und sagte, dass ich dann eben etwas vorsingen müsse. Und so sang ich für sie mehr schlecht als recht das Lied »Zwei Märchenaugen«, aus der Operette Die Zirkusprinzessin.
Das ganze Krankenzimmer lachte. Endlich huschte ein Lächeln über Khalisas Gesicht. Das wollte ich erreichen. »Du wirst auch wieder singen können«, sagte ich zu ihr, »nur viel schöner.« Und wieder lächelten alle. Auch die kleine traurige Opernsängerin hatte ein winziges Leuchten in ihren Augen. Wir wurden mit großem Hallo verabschiedet. Alle strahlten. Selbst Frédéric fand meinen Gesang ausnahmsweise nicht peinlich.
Anschließend besuchten wir das Militärkrankenhaus Tischreen. Hier lagen 92 verletzte Soldaten und Zivilisten. Wir sahen Kamal, einen 24-jährigen jungen Mann mit freiem Oberkörper und schweren Verwundungen an Bauch und Schulter. Kamal war Zivilist. Er war mit dem Verteidigungsminister verwandt und verehrte Assad.
Demonstrativ hatte er an seinem Auto ein großes Foto des Präsidenten angebracht. Vor zwei Wochen wollte er gerade losfahren, als ein Wagen neben ihm anhielt. Der Fahrer fragte, wo hier die Polizeistation sei. Kamal erklärte ihm den kürzesten Weg. Dann fuhr das Auto weiter. Doch nach 50 Metern wendete es und raste auf ihn zu. Mit ihren Kalaschnikows eröffneten zwei Beifahrer das Feuer. Die Kugeln trafen ihn in Bauch und Schulter.
Trotz allem war Kamal gut gelaunt. Wenigstens tat er so. Weil wir Englisch sprachen, hielt er uns für Amerikaner. »Warum glaubt ihr Amis nicht, dass die Rebellen auch Unschuldige töten? Schickt doch eure Leute in unsere Krankenhäuser! Dann braucht ihr nicht mehr darüber zu diskutieren.« Ja, er unterstütze Assad. Er werde das auch weiter tun. Egal, wer auf ihn schieße. Dann deutete er stolz auf ein winziges Stoffbild Assads, das er mit einer Nadel an seinem Kopfkissen befestigt hatte.
Ihm gegenüber lag ein 21-jähriger sunnitischer Soldat. Er hieß Mohammad. Eine Kugel hatte ihn am Bauch, eine am Hals getroffen. Er hatte 27 Tage im Koma gelegen und war stark abgemagert. Teilnahmslos schaute er an uns vorbei. Sein Arzt sagte mir, dass er immer gelähmt sein werde – falls er überlebe.
In einem weiteren Zimmer trafen wir Reyhan, ein 25-jähriges schwer verletztes Mädchen. In Homs hatte vor zehn Tagen eine Rakete ihren Unterkiefer zertrümmert. Auch Brust und Schulter wurden verletzt. Sie war mehrfach operiert worden. Ihr Unterkiefer oder das, was von ihm übrig geblieben war, wurde durch ein Metallgestell zusammengehalten. Reyhan wird noch viele Operationen über sich ergehen lassen müssen. Sie will wieder einem Menschen ähnlich sehen. Wer die Rakete abgeschossen habe, erkundigte ich mich leise. »Die Soldaten«, sagte sie.
Ich fragte den jungen Arzt mit den erschöpften Augen, der uns begleitet hatte, ob wir jetzt gehen könnten. Ich musste hier schnell raus.
Wie war es möglich, dass kluge, liebenswerte Menschen, Politiker, Denker von humanitären Kriegen sprachen? Waren sie nie auf einem Schlachtfeld, in einem Bürgerkrieg, in einer Leichenhalle, in einem Lazarett? Was meinten sie, wenn sie von uns Deutschen verlangten, wir müssten endlich »erwachsen werden«, »Mut« zeigen und wieder »Verantwortung« übernehmen? Was verstanden sie unter Verantwortung? Krieg oder Frieden?
Vier Stunden Kriegskrankenhaus – und jeder, der Herz und Verstand hat, würde sehen, dass der Krieg das größte aller Verbrechen ist. Weil sein Hauptziel Töten und Verwunden ist. Das Zerstören eines der Geschöpfe Gottes. Wer wird denn »gereinigt, geläutert, befreit«, wenn Frauen, Kinder und Soldaten von staatlichen
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