Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
er, dass der 24-jährige Nabil am Tag vor der allgemeinen Flucht einen Genickschuss erhalten habe. Er habe noch versucht, Nabil durch den Tunnel zu tragen. Doch er sei in seinen Armen gestorben. Nie werde er Assad verzeihen. Rache sei für Syrer Pflicht. Alle Familien in Homs, Hama oder Idlib, die Angehörige verloren hätten, würden diese rächen. Auch wenn es Jahre dauere.
Ich fragte Omar nach einem kürzlich erschienenen offenen Brief von »Human Rights Watch«, der den Rebellen Geiselnahme, Folter und die Tötung von Zivilisten vorwirft. Er erwiderte, sie entführten nur, um im Gegenzug gefangene Rebellen freizubekommen. Vor einigen Wochen hätten sie eine 20-Jährige entführt. Sie habe sich sofort in ihren Entführer verliebt. Sie kämpfe jetzt aufseiten der Rebellen.
Die Rebellen folterten nie. Mögliche Verräter würden lediglich »hart vernommen«. Im Grunde seien alle Alawiten Verräter, weil sie das Morden der Sicherheitskräfte unterstützten. Auch manche Sunniten seien Verräter. Sobald sie überführt seien, würden sie hingerichtet. Man schneide ihnen die Kehle durch oder erschieße sie. Von seiner Gruppe seien 20 alawitische Kollaborateure »exekutiert« worden. In ganz Baba Amr etwa 200. Ich fragte Omar, ob er uns seine Beschreibung der Hinrichtungen auch in die Kamera sprechen könne. Wir würden ihn dabei nur von hinten filmen. Omar nickte und schilderte die Exekutionen in aller Seelenruhe noch einmal kurz für Frédérics Kamera. Dann brachten wir ihn zu einer Taxistation zurück.
Es mag merkwürdig klingen, wenn ich sage, dass dieser Rebell nicht unsympathisch war. So wie die meisten syrischen Rebellen und die meisten syrischen Soldaten, die ich erlebt hatte, nicht wie Schurken wirkten. Was war mit diesen Menschen geschehen?
Revolution, Bürgerkrieg und Krieg legten im Innern der meisten Menschen offenbar einen Hebel um. Ein völlig neues »Spiel« begann. Mit ganz anderen Regeln. Plötzlich empfanden sie auch brutalste Formen des Tötens nicht mehr als etwas Böses, sondern als etwas Normales. Ja sogar als Heldentat. Selbst Kriegsverbrechen gegenüber Zivilisten, Frauen und Kindern wurden als alltäglich und angemessen empfunden. Kriege und Revolutionen deformierten selbst anständigste Menschen. Wie jene heimlich abgehörten deutschen Wehrmachtssoldaten.
Am nächsten Tag besuchten wir in der Altstadt von Damaskus Ismail, einen jungen Schmuckhändler. Er hatte bei meinem Besuch im Juni 2011 stolz bekannt, leidenschaftlicher Anhänger Assads zu sein. Er freute sich, als er mich erkannte. Als ein Kunde in seinem winzigen Geschäft auftauchte, übernahm seine Freundin Rana das Gespräch. Sie war 22, studierte Geschichte und war sehr hübsch.
Rana sagte, sie gehe zu jeder Demo in den Vorstädten von Damaskus. Assad müsse abtreten, weil das Blut ganz Syriens an seinen Händen klebe. Er sei außerdem der wichtigste Freund Israels. Diese Behauptung hörte ich von Rebellen besonders häufig.
Selbst wenn er morgen freie Wahlen abhielte und diese gewänne, müsse er weg. »Es ist aus, vorbei, basta!« Rana wünschte sich eine Militärintervention der NATO . Auch wenn das viele tote Zivilisten bedeute. Das tue ihr zwar leid, aber anders lasse sich das Drama nicht mehr lösen. Sie werde weiterdemonstrieren, auch wenn die Demos immer kleiner würden. Sie habe keine andere Wahl. Dann weinte sie.
Inzwischen war ihr Freund Ismail wieder zu uns gestoßen. Ich fragte den einst glühenden Assad-Fan, ob er die Meinung seiner Freundin teile. Er nickte. Ich war mir nicht sicher, ob aus Überzeugung oder aus Liebe.
Die Krankenhäuser von Damaskus
Am folgenden Tag wurden wir von Freunden unseres Fahrers und Dolmetschers Tuma in ein armseliges Haus im Palästinenserviertel Jarmuk gebracht. Dort, wo Tanaya zu Hause war. Hier lebten auch Schiiten. Ein etwa zwölfjähriger schiitischer Junge erzählte uns fast teilnahmslos seine Geschichte: Sein Vater sei Anhänger Assads gewesen. Vor ein paar Wochen hätten Männer die Wohnung gestürmt. Es sei zu einer Schießerei gekommen. Eine Kugel habe seine Hand durchschlagen.
Die Männer hätten seinen Vater gepackt und auf die Straße geschleppt. Dann habe er Schüsse gehört. Er sei runtergerannt. Dort habe er seinen Vater nur noch tot in einer großen Blutlache aufgefunden. Mit leeren Augen schaute der Junge an uns vorbei.
Wir wurden in ein anderes, ähnlich heruntergekommenes Haus geführt. Auf einer Wolldecke lag Ali, ein etwa 50-jähriger, schwergewichtiger
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