Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
jedenfalls der in Jahrzehnten eingeübten Matthesordnung, die sie nie grundsätzlich hinterfragt hatte. Ja, sie war durcheinander, und eine devote, fußfällige Maljutka war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Jetzt merkte sie, dass es gerade Maljutkas stacheliges, widerborstiges Wesen gewesen war, das sie gereizt hatte, bis aufs Blut sozusagen, nicht etwa ihre schlecht zu versteckende Männlichkeit oder der breite, ausufernde Schritt, den sie zeigte, wenn es ihr nicht darauf ankam. Helene selbst war nie widerborstig und stachelig gewesen, sondern dem Muster des anschmiegsamen Weibchens nur halbherzig entwachsen. Zwar konnte sie für ihre Rechte, beruflich und politisch zum Beispiel, einstehen, hatte das früh gelernt und sich auch nichts vormachen lassen, aber im persönlichen, privaten Bereich zog sie schnell die Fühler ein und sich zurück in die Muschelschale, wenn die Harmonie auf der Kippe stand und durch einen Verzicht zu retten war.
Eine servile Maljutka war undenkbar, unvorstellbar. Sollte ihr doch nicht die Finger lecken, wenn sie die gnädig, einmal im Quartal?, rüberreichte! So hatten sie nicht gewettet, Helene wurde geschüttelt, schüttelte sich, eine Welle des Widerwillens brach sich an ihrem eben noch klaren Blick, und hätte Maljutka ihr nicht erschrocken die Hand auf den Unterarm gelegt, so wäre das Ganze womöglich in eine Art Schüttellähmung ausgeartet …
Sie muss lächeln bei diesem Gedanken, das stimmt sie versöhnlich. Mit dem, was man Schicksal nennt? So weit würde sie vielleicht nicht gehen. Aber mit dem heutigen Tag, der eben heraufkriecht und rote Streifen ins Schwarz, ins Grau malt, der ihr gestattet hat, sich ein ernst zu nehmendes Stück der Vergangenheit wiederzuholen, muss sie nun nicht so hart ins Gericht gehen wie mit dem gestrigen.
Sie dreht sich zur Seite, kann sogar noch einmal einschlafen, aber erst, als sie ein hartes, sperriges Stück Plastik aus dem Slip gefischt hat. Sie legt es unters Kopfkissen.
Maljutkas Gesicht, kantig, nun mit einem Halbrähmchen aus kurzem Aschblond, die schmale Nase der glänzenden Stellen wegen gepudert, kommt immer mit, wenn Helene an diesem Morgen in der Klinik unterwegs ist. Während der Ergotherapie versucht sie verbissen, eine Steckaufgabe zu bewältigen. Sie kennt die Ergotherapeutin, eine Arztgattin, die früher mit Mann und Sohn im Henrichshorster Ärztewohnhaus lebte. An den Sohn kann sich Helene gut erinnern, er hieß Ben und lernte in der Musikschule die Violine spielen, hatte im letzten Kindergartenjahr damit begonnen. Er besuchte mit Bengt den Kindergarten, war ein früher Freund. Wann waren sie aus Henrichshorst weggezogen? Vor siebzehn Jahren. Jahre, in denen Helene sich sehr verändert haben muss, denn die Ergotherapeutin erkennt sie nicht. Dabei hatte sie in deren Augen zum qualifizierten Personal gehört. Seltsam, in solchem Wissens-Ungleichgewicht hier zu sitzen und zu versuchen, diese verdammten Steine nacheinander in das Steckbrett zu befördern. Manchmal gelingt es Helene, ein Steinchen fest genug zu greifen, dass es ihr nicht aus der Hand fällt. Ein- oder zweimal hat sich der rechte Arm unter Aufbietung aller Kräfte ein Stück über den Tisch schieben lassen, aber dann muss die Therapeutin zum Einstecken ins Brett ihren Arm führen, der sich selbst einfach nicht mehr bewegen will. Ob sie der Frau ein Gespräch über alte Zeiten aufnötigen sollte? Ihr die Schuppen aus den Haaren fallen zu sehen, würde ihr schon Spaß machen. Andererseits ist es aber auch nicht schlecht, etwas über eine andere Person zu wissen, was diese wiederum nicht weiß. Maljutka, was meinst du? Maljutka plinkert geradezu verschwörerisch, mit aller ihr zu Gebote stehenden und von Helene so bewunderten Frechheit, zu ihr herüber, wenn sie die Augen schließt.
Oh, ist Ihnen nicht gut? Wollen wir Schluss machen?
Die Stimme der Arztgattin ( Trautenau liest Helene auf dem Schild an deren Kittel, sie heißt also wie damals und hat demzufolge nicht erneut geheiratet) lässt sie die Augen wieder aufschlagen, neinnein , beeilt sie sich, alles gut. Überlegt, wartet einen Augenblick.
Aber doch, ja, wir können auch Schluss machen …
Frau Trautenau ist eine hochnäsige Person. Vor siebzehn Jahren hatte sie nicht gearbeitet, das war seltsam und unüblich gewesen für eine Frau mit einem Kind im Kindergartenalter. Heute arbeitet sie. Muss sie? Heute ist es für sich selbst so bezeichnende Arztgattinnen viel eher üblich, nicht zu arbeiten, auch wenn
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