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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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längst keine kleinen oder größeren Kinder mehr um sie sind. Ist ihr der Mann auf und davon? Und was ist aus ihrem Sohn geworden? Ist er ein Einzelkind geblieben? Helene erinnert sich an die Überheblichkeit, mit der sie vor versammelter Elternschaft im Kindergarten auf das Violinspiel des Sohnes verwiesen und ihn zum Elternabend hatte auftreten lassen, ein kleiner, blasser, bekümmert aussehender Eleve, der auch nach Beendigung seines erbärmlich hingekratzten Stückes kein Lächeln zwischen die Lippen bekam. Leid hatte er ihr getan, und sofort hatte sie am lautesten geklatscht und sogar Bravo! gerufen …
Kennen wir uns?, hört sie Frau Trautenau sagen, Sie sehen mich so an?
Mal sehen , rutscht es ihr heraus, im gleichen Augenblick erschrickt sie über die sinnlose Antwort.
Erst als sie längst aus dem Raum verschwunden ist und in der Umkleidekabine der Schwimmabteilung sitzt, raunt ihr Maljutka zu, dass das ja nun keinesfalls eine sinnlose Antwort gewesen sei.
Oder?
Schwimmen ist schön. Wie immer.
Das heißt, schwimmen kann Helene natürlich noch lange nicht, sie kann mit dem rechten Bein inzwischen ein wenig die nötige Bewegung nachahmen, aber der rechte Arm macht nicht mit. Sie geht sofort unter, so ohne Wasserwurst. Aber den toten Mann darf sie heute nach Belieben geben. Neben ihr ist eine Dreiergruppe im Wasser, motorisch nicht eingeschränkte Patienten, die so etwas wie Aquagymnastik betreiben. Die Musik ist zu laut, dröhnt, vergällt ihr das Totsein. Auch Maljutka verzieht angewidert das Gesicht. Also versucht Helene, einbeinig und unter Festhalten, nachzuahmen, was die Randdame vorturnt. Hampelmann. Sie steht, die rechte Hand an der Beckenrandstange, brusttief im Wasser und versucht, das linke Bein abspreizend, die linke Hand hochreißend, zu springen. Dann die Hand wieder runter, an die nicht vorhandene Hosennaht, und das Bein in die Ausgangsstellung. Gar nicht schlecht, so ein einbeiniger Invalidenhampelmann. Nach fünf Sprüngen wird ihr aber die Luft knapp, das Herz überschlägt sich. Es war zu viel. Seltsam, dass ihr das Maß für körperliche Anstrengung völlig zu fehlen scheint. Nie hätte sie gedacht, durch solche Kleinigkeiten derart außer Atem zu geraten. Sie hält ein, hält inne, ihre Einzel-Therapeutin ist nicht zu sehen. Da fällt ihr ein, wie sie nach dem Erwachen aus dem Koma die kleinen Federn hatte zusammendrücken, wie sie eine Kugel zum Fliegen hatte bringen sollen durch Lufteinblasen in jene merkwürdige Apparatur. Das hatte sie überhaupt nicht geschafft.
Es war erst drei Monate her.

Merkst du denn nicht, dass nicht mal die Enten nicht näher herankommen wollen?
Dieser Fragesatz, von einer Mutter ausgesprochen, als ihr unten am See im Wagen geparktes Kind laut schrie, beschäftigt sie nun schon den ganzen Nachmittag. Ganz abgesehen davon, dass das Kind viel zu klein gewesen war, um einen solchen Satz überhaupt auf sich beziehen zu können, ist Helene verzweifelt, weil ihre Proben aufs Verständnis grundsätzlich misslingen. Die doppelte, die dreifache Verneinung ist ihr zu hoch, sie kommt einfach nicht hinterher. Merkst du denn nicht? Doch, doch, merken kann sie schon. Aber dass nicht mal die Enten nicht näher herankommen wollen , erschließt sich ihr einfach nicht. Was blockiert da in ihrem verdammten Schädel jegliche Logik? Sie erinnert sich, früher solche Sätze einfach von hinten aufgedröselt und schließlich, in jedem Fall!, zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Entweder war die Verneinung, doppelt oder gar dreifach, sinnig, unsinnig oder spitzfindig gewesen. Was aber bedeutet sie hier? Die Enten wollen nicht näher herankommen? Aber sie wollen doch nicht nicht näher herankommen! Was heißt das? Nicht nicht? Konfusion in ihrem Kopf, sie ist unruhig, fahrig geworden, es regt sie unglaublich auf, solche Defizite zur Kenntnis nehmen und damit umgehen zu müssen, dabei würde jeder hier, dem sie davon verschämt Mitteilung machte, nur lachen und meinen, dass es sich doch dabei um eine Lappalie handele. Dass er oder sie selbst Schwierigkeiten hätte mit doppelten Verneinungen und dass es sich nicht lohne, sich darüber aufzuregen. Wie hatte Matthes gesagt, als sie ihn auf sprachliche Defizite ansprach, die sie immer wieder bei sich bemerkt? Ach Helene, du bist doch nur endlich normal geworden … Das war ein Satz, der einerseits vermutlich seine Hochachtung vor ihrem Sprachvermögen ausdrückte. Andererseits fühlte sie sich durch ihn seltsam bedroht, ohne dass sie genau

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