Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
kann Helene dieselbe Traurigkeit spüren wie in den 90 er-Jahren, wenn sie ans Dorf dachte, das bei ihnen immer nur das Dorf hieß, seit Jahrzehnten inzwischen. Die Straße in das abgelegene Kaff war gleich nach der Wende endlich erneuert worden. Landmaschinen fuhren kaum noch hier entlang, sie nahmen Wege übers Feld, und manchmal hatte sie Frauen mit Fahrrädern gesehen, die ihre Einkäufe herbuckelten, die Räder behängt, die Schultern nicht minder. Der Bus nahm die Schleife ins Dorf nur noch alle zwei Tage, sodass sie, wenn sie zwischendurch einkaufen wollten, mit dem Rad zur Überlandstraße fahren mussten, vielleicht vier Kilometer. Dort schlossen sie die Räder an und nahmen den Bus nach Ducherow, später zurück. Wieder aufs Rad. Helene hatte überlegt, dass sie kein Geld für einen Führerschein hatten, kein Geld für ein Auto. Oder aber ihre Männer hatten ein Auto im Hof stehen, waren aber zu besoffen, um fahren zu können. Frauen ab vierzig lebten noch hier, die Jungen waren fast alle weg. Wollten nie zurück. Das Dorf würde über kurz oder lang aussterben, Andreas’ Vater hatte seinen Sohn um ein halbes Jahr überlebt. Andreas’ Schwester hatte Haus und Hof geerbt und bemühte sich redlich, einen Käufer dafür zu finden. Erfolglos. Sie selbst wohnte mit der Familie in Anklam, wo sie als Sachbearbeiterin in der kommunalen Verwaltung arbeitete. Sie kam nur am Wochenende ins Dorf, sah nach dem Rechten, lief den Garten ab, zupfte Unkraut, erntete, wenn es etwas zu ernten gab. Den linken Nachbarn hatte sie fürs Mähen bezahlt. Er hatte oft gemäht. Zu oft. Sie hatte dann den rechten Nachbarn ums Mähen gebeten und nicht wieder versäumt, einen Terminplan vorzugeben. Oft sprach sie bei Pietro vor und bot das Haus als Quartier für dessen Gäste an. Alle im Dorf erinnerten sich an frühere Zeiten, da Pietros Garten und die umliegenden Wiesen von Zelten belagert worden waren. Lang, lang war’s her.
Pietros Haus reichte inzwischen vollkommen aus für die immer seltener eintreffenden alten Freunde. Keiner konnte sich vorstellen, hier zu wohnen, in dieser Idylle. Gleich gegenüber von Pietros Katzberg stand ein Haus, das in der ersten Hälfte der Neunziger von einer jungen Familie aufgekauft und ausgebaut worden war, mit eigenem Teich, umgeben von Wald und Feld. Selbst dieses schöne Haus stand seit Jahren leer, die Familie war fort, vielleicht zerbrochen?, und einer allein schaffte es womöglich nicht, die Kinder in Schulen und Kindergärten zu bringen, was mit einer Art Arbeit ohnehin unvereinbar war, so abgelegen, wie das Dorf lag. Als sie im vergangenen Jahr dort gewesen waren, hatten sie einen Gang auf das freie, nicht umzäunte Gelände gewagt. Das Haus war keineswegs nach ihrem Geschmack saniert und ausgebaut worden, Styroporkassetten verunzierten die Decken der Zimmer, die Fußböden waren mit billigem Teppichboden belegt. Aber das Haus war technisch auf einem guten Stand gewesen, ehe es verlotterte, ehe die Scheiben eingeworfen und alle Räume als Toiletten benutzt wurden. Helene hatte sich gefragt, wer von den Dorfbewohnern zu solchem Vandalismus aufzureizen war. Ihr fiel niemand ein.
Es ist sogar schön, diese alt gewordene Traurigkeit wieder zu spüren, die mit der neuen um Maljutka nichts gemein hat, denkt Helene jetzt. In zwei Traurigkeiten gleichzeitig zu sein, ist kein schlechter Zustand, man liegt auf der einen und deckt sich mit der anderen zu, und wenn man hinaufschaut, kann man sich auf einmal vorstellen, dass diese Traurigkeiten nur zu spüren sind, weil es das Gegenteil davon wirklich gibt.
Die Lust.
Den Überschwang.
Deren Überschwappen
Sie möchte zu schreiben beginnen. Nicht ihrem Beruf nachgehen! Oh nein. Ob sie das eines Tages wieder können wird, ist unabsehbar für sie. Matthes hat erzählt, dass eine Anfrage kam: An einem Berliner Hauskomplex wollen Künstler kurze Gedichte in Szene setzen. Auftragswerke. Sie sollen in die Hauswände eingelassen, in Steinböden eingebracht, auf Fenstern installiert werden. Ob sie zu solchem Auftrag bereit ist? Ihr graut davor. Sie weiß es doch: Zwischen ihr und einem möglichen Gedicht gähnt ein sehr schwarzes Loch! Natürlich liest sie die Namen der angefragten Kollegen – nicht schlecht, es wäre ihr eine Ehre, da mitzumachen. Sie überlegt. Sagt schließlich Nein. Hat Angst. Es wird nicht gehen. Was ist überhaupt ein Gedicht? Sie erinnert sich, früher beim Lesen oder Hören guter Gedichte körperliche Empfindungen gehabt zu haben, die
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