Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
hat er seit Kurzem eine Liebste, das ist schwierig. Man sieht sich selten. Wer sie ist? Sie ist eine Apothekerin, er hat sie kennengelernt, als er vor ein paar Wochen in Berlin seinen Sohn Moritz besuchte, der mit Grippe im Bett lag. Von dessen Mutter wurde er in die Apotheke beordert. Hätte sie die Folgen erahnt, die das haben würde, hätte sie es tunlichst vermieden, ihn dorthin zu schicken, sagt Pietro. Helene überhört das, Moritz’ Mutter kann sie genauso gut leiden wie Pietro, schade, dass die beiden vor Jahren auseinandergingen.
Ob sie hübsch ist? Sie ist die Schönste weit und breit! Pietro ist begeistert. Das ist er immer von neuen Lieben. Helene lächelt. Du sollst nicht immer so weise lächeln , sagt Pietro, da fühlt man sich ja so schrecklich durchschaut! Oh, sie lächelt also weise … Darüber freut sie sich nun wieder. Dass man ihrem Lächeln Weisheit unterstellen könnte, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen angesichts der Zustände der Leere, von denen sie heimgesucht wird. Die sie neuerdings selbst aufsucht, um sich ihrer zu vergewissern. Um sie vielleicht zu füllen? Ach was, dumme Gedanken. Sie möchte bei Pietro sein. Wie geht das noch mal? Sich auf ihn einlassen? Es ist schön, mit Männern zu tun zu haben, deren Verhältnis zu ihr nicht verunstaltet ist von Liebe oder dem, was sie dafür halten. Warum sie das jetzt denkt, weiß sie nicht, aber es ist einprägsam und deutlich. (Sie prägt es sich ein, es steht ihr deutlich vor Augen.) Pietro hat sie nie geliebt, vielleicht kann sie sich nur deshalb seiner Achtung, seines Respekts und Wohlwollens so sicher sein. Ihr wird warm, sie sonnt sich in Pietros Reden. Schwungrad-Elli , sagt sie schließlich, und Pietro knickt sofort ein. Geht als Elli vor und zurück im Zimmer, bringt sie zum Lachen. Ach Pietro, wenn du wüsstest …
Pietro weiß einiges. Zum Beispiel hat er ihr auszurichten, dass Matthes heute nicht kommen wird, weil zwei Besucher vielleicht zu viel sind, er hat ihm den Vortritt gelassen. Schade. Nun kann sie ihn nicht nach dem Buch fragen, das dieser Tage ausgeliefert werden muss, wenn sie nicht alles trügt. Warum nur hatte das bislang überhaupt keine Rolle gespielt?! Hatte sie nicht …? Ja, sie hatte! Am Tag, als das Aneurysma platzte, hatte sie vormittags für die Drucklegung zwei Einrückungen vorgenommen! Hatte Matthes noch freudestrahlend verkündet, dass nun alles, aber auch alles abgeschlossen sei am neuen Roman und er zum Termin ausgeliefert werden könne! Jetzt wird sie unruhig, so schnell kann sie das Pietro gar nicht erzählen, er wüsste womöglich nicht, wovon sie spricht … Aber wie um den Kohl fett zu machen, zieht Pietro, ganz Geste des großen Zauberers, mit einer Hand, die andere auf der Brust, halb vom Sakko bedeckt, etwas aus der Tasche und legt es mit einem Tusch, den er mindestens ebenso gut imitieren kann wie eine Person namens Schwungrad-Elli, vor Helene auf den Tisch. »Der Beauftragte«, in der Tat, das ist er, ihr neuer Roman, er sieht so vertraut aus, obwohl sie das fertige Exemplar zum ersten Mal in Händen hält. Matthes hat ihm das mitgegeben, gestern kam mit der Post ein ganzer Karton davon. Helene betrachtet ihn, liest den Klappentext, jetzt kommt zurück, was zurückliegt: wie sie ihn schrieb, wie sie haderte mit dem Gegenstand, wenn er sperrig zu werden drohte, wie sie ein ums andere Mal aufsprang vom Computer, wegen der Wut, die sich in ihr breitgemacht hatte wie zähe Polenta und kaum mehr vom Denken abzukratzen war. Wie sie manchen Tag großspurig zwanzig Seiten! verkündet hatte – an den Abenden solcher Tage war sie gut aufgelegt gewesen und hatte Lottchen besonders lange im Bett vorgelesen, auch anderes war eher zu gewärtigen gewesen, sie war manchmal gleich im Bett liegen geblieben, nachdem sie Lottchen in ihres verabschiedet hatte, und hatte auf Matthes gewartet, um zu wissen, ob sie Sex haben wollte. In den letzten Jahren hatte es sich so ergeben, dass sie es einfach nicht merkte, ohne Matthes nahe bei sich zu haben. Jetzt reichen die Erinnerungen den Staffelstab weiter, dass ihr angst und bange wird: Sie sieht sich mit Grießbrei im Arbeitszimmer hocken und löffeln, immer drei Sätze, ein Löffel; sie schneidet sich vor dem Bildschirm die Zehennägel, weil sie nicht einfach ins Bad gehen kann, wenn es flutscht; die Kinder kommen, sie hat die Tür verschlossen und öffnet nicht, reagiert nicht einmal auf vorsichtige Fragen. Als die Fragen nicht mehr vorsichtig sind, sondern
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