Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
lateinische Buchstaben und meint es gut mit ihr. Auch damals hatte sie sich in der sommerlichen Gewissheit gesonnt, dass das Glück zugelangt hatte. Mit den vier Kleinen waren sie oft im Juli, August hinaufgefahren, tagsüber nach Usedom auf die Insel gepilgert, zum Baden, zum Sonnen, alles war unangestrengt und einfach gewesen für ein paar Wochen. Im Sommer ’89 hatten sie dann täglich vor der Kiste gehockt und die Nachrichten gesehen, die Leichtigkeit war dahin, irgendetwas würde passieren. Dass sie so schnell gefordert sein könnten, den Laden zu übernehmen , wie sie es ausdrückten, damit hatten sie nicht gerechnet und befanden sich in einem Zustand der Fiebrigkeit, des Nervenkräuselns. Mareile war zwischendurch zu windeln, die anderen drei forderten Badefahrten ein. Sie teilten es sich, einer blieb immer mit Mareile im Haus, der andere fuhr an die See. Hätten sie gewusst, wie es sich ein oder zwei Jahre später eingeebnet hatte, ohne dass sie auch nur einmal wirklich nahe daran gewesen wären, den Laden zu übernehmen , hätten sie sich die Aufregung klemmen und bei der Tagesordnung bleiben können.
Die späteren Sommer waren anders gewesen. Der Dorfkonsum schloss. Ein Auto musste her. Zunächst kaufte Pietro einen alten VW. In Ducherow öffnete ein Supermarkt nach dem anderen, sie verbrachten viel mehr Zeit mit dem Einkauf, zu dem man nun eine richtige Ausfahrt veranstalten musste. Das Leben im Dorf verschlierte zusehends, die LPG schloss, stattdessen versuchte ein Investor, eine Agrar GmbH zu installieren – mit zwölf Mitarbeitern, wo doch zuvor nahezu alle sechzig Familien von der LPG gelebt hatte. Andreas, der während Pietros Abwesenheiten nach dem Haus sah, hatte als Mädchen für alles in der LPG gearbeitet, war als Springer hier und dort im Einsatz und, ja!, wichtig gewesen. Von einem auf den anderen Tag wurde er unwichtig. Den Veränderungen stand er hilflos gegenüber, ließ sich von einer Baufirma aus Lübeck anlocken, montags in aller Herrgottsfrühe abholen und freitags spät zurückbringen im Kleinbus. Er schuftete weit unter Tariflohn, von dem er keine Ahnung hatte. Als er dennoch arbeitslos wurde und es über ein Jahr lang auch blieb, gab er brav seine gesparten 10000 DM an. Die müsse er zu guten Teilen erst aufbrauchen, hieß es, ehe die Arbeitslosenunterstützung griffe. Er soff sich davon zu Tode. Verstand nichts mehr. In der zweiten Hälfte der 90 er waren sie ein paarmal an seinem Grab gewesen, hatten Gänseblümchen oder Veilchen ins Wasser gestellt. Helenes Geburtsjahrgang. Erschrocken hatten sie die vielen Gräber Gleichaltriger gesehen (sie zählten: zehn!), in den Fünfzigerjahren Geborener, mehr Männer als Frauen, als hätte hier eine ganze Generation sich verabschieden wollen. Der Suff hatte zugelangt, die Dorfkneipe hatte nach wie vor Konjunktur. Es gab nicht mehr viele Kinder. Die es gab, schielten. Helene musste das Wort Inzucht denken, hätte sich ohrfeigen wollen dafür. Die Tage waren anders gewesen als in den Achtzigern: Wer von den Männern nicht beim Bier hockte, tauschte etwas wie Worte mit dem Nachbarn übern Gartenzaun, es sah so aus, als wären sie sich einig geworden, die Münder ebenso langsam zu bewegen wie ihre Körper: Ein Schlurfen und Lungern überall, als brächte jede unnütze Bewegung sie unnötig auf, sie ließen sich nicht mehr ein auf lange Gespräche, es war, als wäre irgendein Ende allen präsent und sie in Angst erstarrt, es auszusprechen. Sie war mit Matthes seltener hinaufgefahren seit den Neunzigern, hatten das vor sich selbst mit dem Größerwerden der Kinder, mit ihren nun anders gelagerten Urlaubsinteressen und -möglichkeiten gerechtfertigt (Italien! Portugal!), aber eigentlich war es das Dorf gewesen, dessen gespenstischer Anmutung sie sich hatten entziehen wollen. Ähnlich wie die Dörfler selbst, die unter dem Eindruck des von allen geahnten Endes erstarrt schienen, hatten sie nicht mehr hinsehen wollen, wie es sich dort totlief. Wie sich ein Dorf, Andreas voran, aus dem Leben trank inmitten herrlich blühender Landschaften, Rapsfelder, Kartoffeläcker, Wiesen und Weiden, die keine Leute mehr brauchten, um in voller Blüte zu stehen. Einfache Leute waren es, die hier lebten, in ihren Gesprächen ging die Welt im Fernsehformat ein und aus, wer gespart hatte, hatte gerade genug für die eine große Reise, mit dem Bus an den Gardasee, und wenn er zurück war, freute er sich nicht einfach, sondern machte so weiter mit dem Schlurfen. Jetzt
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