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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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mit Geisteszuständen einhergingen, zu denen ihr einfach nichts einfallen will. Aufgeregt war sie, beflügelt, die Worte traten von selbst eine Lawine los in ihrem Kopf, dass sie nur noch aufzuschreiben brauchte, was ihr einfiel. Ein wunderbarer Zustand, den sie im Moment nicht herstellen kann. Matthes hat ihr Lieblingsgedichtbände mitgebracht. Zum Beispiel Seamus Heaney, eine Entdeckung der letzten Jahre. Nichts rührt sich, wenn sie ihn liest. Es geht nicht ums Verstehen der Gedichte, das war ihr ohnehin nie wichtig, die Qualitäten der Perzeption, der Rezeption waren andere gewesen. Aber diese Qualitäten sind fort, sind nicht auffindbar, weder in Körper noch Geist, sozusagen. Sie bemüht sich. Liest zweimal, dreimal, viermal den Text, an den sie sich, ja!, erinnert, der Unerhörtes ausgelöst hatte in ihr. Aber was?
Peilungen
VI
Einmal, als Kind, auf einem Feld von Schafen,
Tat Thomas Hardy so, als sei er tot, und
Legte sich flach hin zwischen zarte Beinchen.
In diesem Raum, beblökt, beschnuppert, grasig,
Experimentierte er mit der Unendlichkeit.
Die kleine kühle Stirn war ein Amboß in Erwartung,
Daß der Himmel ihm den reinen Ton entlocke
Seines Stummseins, und die Unruhe, die er hervorrief
Im Vlies-Gedränge, war die Urform
Einer Welle, die sich achtzig Jahre weit
Von dort ausbreiten würde, um dieselbe Welle
In ihm zu sein, in ihrem letzten Umfang.
Nichts. Stattdessen die Frage, wer wohl Thomas Hardy war … Das wäre ihr früher mit Sicherheit egal gewesen. Aber sie weiß doch noch, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie das Gedicht zum ersten Mal gelesen hatte!
Langsam.
Die entscheidende Zeile suchen.
Ein Junge, klein und zäh stellt sie ihn sich vor, sommersprossig und mit nackten Füßen, experimentierte mit der Unendlichkeit. Wie experimentiert man denn mit der Unendlichkeit?! Er liegt auf dem Rücken, seine Stirn zwischen den Schafsmäulern, und hofft erregt darauf, der Himmel möge den Stirnamboss anrühren, auf dass der reine Klang des Schweigens sich über das Blöken und Schnuppern und Springen der Tiere erhebe. Er liegt still, aber die Unruhe um ihn her vervielfacht sich zur Welle, die nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit sich ausbreiten und noch nach achtzig Jahren, dem Moment also des Rückblicks, aus dem dieses Gedicht geschrieben wurde, die Unruhe um ihn her weiter und weiter tragen würde, auch über ihn hinaus, wenn er denn starb … Ja, das war es gewesen: das Ineinanderschlagen von Raum und Zeit in einer von ferne erinnerten Kinderstirn! In zwölf Zeilen ein solch existenzielles Motiv scheinbar mühelos und außerordentlich schlüssig abzuhandeln, war ihr geradezu sensationell erschienen und hatte ihre, nun ja, Innereien regelrecht durcheinandergebracht, plötzlich war ihr übel geworden, der Magen hatte rumort, das Gedärm gepfiffen. Jäher Blutdruckabfall hatte die Knie einknicken lassen, und als es ihr wieder besser gegangen war, hatte Mareile nahebei gesessen und erschrocken gefragt, was passiert wäre. Sie hatte lachen müssen und ihr das Gedicht vorgelesen, und als später Matthes dazugekommen war, hatte er Mutter und Tochter auf dem breiten Bett fläzend und in philosophisch-poetische Betrachtungen vertieft vorgefunden. Als Mareile schließlich aus dem Zimmer verschwunden war, hatte er sich dann eng an sie herangekugelt, aber ihr hatte der Sinn nicht danach gestanden.
Sie ist erschöpft.
Still setzt sie sich in den Fenstersessel.
Den entstehenden Zustand der Leere kennt sie inzwischen zu gut, es ist, als ob die bewusste Gehirnaktivität tatsächlich zum Erliegen kommt, sie meint, an nichts denken, aber auch nichts evozieren zu können. Diese Traurigkeit nun kommt schnell, ist von der dritten Art, allumfassend, ohne Ausblick. Selbst der Blick aus dem Fenster bleibt folgenlos, sie nimmt nicht wirklich wahr, was da unten vor sich geht, obwohl sie es sehr genau sehen kann, es ist ein Nebeneinander von Personen und Dingen und Bäumen und Hecken und Steinen und Mauern, die sie in keinerlei Beziehung zueinander zu setzen vermag, ein seltsamer Zerfallszustand des Wahrnehmens, sie kannte ihn nicht, sie kennt ihn jetzt.
Ehe ihr zum Heulen zumute sein kann, kommt die Sozialarbeiterin ins Zimmer. Guten Tag, Frau Wesendahl, wie geht’s?
Sie hat Bögen über Bögen im Arm, Helenes Wahrnehmung beginnt sich wieder zu zentrieren, alles läuft aufs Papier hinaus, das die Frau mitgebracht hat. Die Rentenfrage. Die Haushaltshilfefrage. Jetzt, wo sie nicht mehr über die Kasse

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