Du und ich und all die Jahre (German Edition)
habe …»
«Mir tut es leid, dass ich nicht da war, als du mich gebraucht hast.»
Eine Weile lagen wir schweigend und eng umschlungen da, mir wurde warm ums Herz, ich fühlte mich völlig sicher und geborgen. Ich erzählte ihm meine Vorsätze, dann stand ich auf und ging in mein Zimmer zurück.
«Ich sollte hier lieber nicht einschlafen», sagte ich zu ihm. «Mom bringt mich um.»
«Du hast ihr doch vorhin erzählt, dass ich schwul bin, oder?»
«Sie bringt mich trotzdem um.»
«Okay.»
«Kommst du klar?»
«Ja, alles in Ordnung. Nacht, Nic.»
«Nacht.»
Ich schlich auf Zehenspitzen in mein Zimmer zurück und krabbelte in mein Bett, wo ich beinahe sofort einschlief. Ich träumte, dass Julian und ich zusammen in den Ferien waren, wir fuhren auf Motorrädern durch eine Wüste. Die Sonne ging unter, und wir hielten an, um Fotos zu machen. Als Julian seinen Helm abnahm, sah ich, dass seine Augen grün waren und nicht braun. Es war überhaupt nicht Julian, sondern Aidan.
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5. Kapitel
27. Dezember 2011
Es ist wieder dunkel, als ich aufstehe. Dieses Mal habe ich keine Zeit, die Hunde auszuführen. Unter die Dusche springen, anziehen, meine Notizen zusammensuchen, Kaffee trinken, los. Ich muss spätestens um Viertel nach neun in Oxford sein. Wenn ich um halb acht hier loskomme, schaffe ich es gerade so.
Um zwanzig vor acht stürme ich die Treppe hinauf, um mich von Dom zu verabschieden. Er hat gerade die Augen aufgeschlagen.
«Musst du schon los?», krächzt er verschlafen.
Ich küsse ihn auf die Stirn.
«Du bist zum Abendessen zurück, oder?», fragt er. Ich sage nichts, küsse ihn stattdessen noch einmal. «Ich wünsche dir einen schönen Tag, Liebling», sagt er. «Toi, toi, toi für dein Interview.» Auf dem Weg zur Haustür erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild und bekomme einen Schock. Meine Haare, die im Sommer noch eher kurz waren, haben jetzt das schwierige Übergangsstadium zwischen kurz und lang erreicht. Ich bräuchte wirklich dringend einen Friseurtermin. Außerdem sehe ich blass aus, ein bisschen müde. Wie jemand, der lange nicht an der frischen Luft gewesen ist.
Ich stecke im Stau auf der M40. Verkehrschaos. Am Tag nach Weihnachten? Wo zum Teufel wollen die alle hin? Ich krame voll Hoffnung im Handschuhfach. Und da ist es, Schmuggelgut. Ein Päckchen Marlboro Lights, noch halb voll. Dom würde mich umbringen, wenn er davon wüsste.
Ich zünde mir eine Zigarette an und schalte das Radio ein. Ein paar Minuten sinnloses Blabla, dann kommen die Pogues und Kirsty MacColl mit The Fairytale of New York . Das Lied beginnt genau in dem Augenblick, als ich an der Ausfahrt High Wycombe vorbeifahre. Ein Zeichen oder grässliche Ironie des Schicksals? In Wirklichkeit natürlich ein nicht mal unwahrscheinlicher Zufall – immerhin dudelt das Lied zu Weihnachten pausenlos im Radio, seit es mal irgendwo zum besten Weihnachtssong aller Zeiten gewählt wurde.
Dennoch habe ich für einen Moment das Bild vor Augen, wie Julian meine leicht irritierte Mutter in der Küche herumwirbelt und dazu aus vollem Halse mit einem fürchterlich falschen irischen Akzent dieses Lied singt. Wann war das, vor zwanzig Jahren? Ich, Mom und Julian tranken unerlaubter Weise Sekt und aßen Weihnachtskekse. Julians Eltern besuchten seine Tante in Australien, und wir verbrachten zum ersten Mal Weihnachten zusammen … Lange her. Ich schalte das Radio ab und drücke meine Zigarette aus.
Das Auto vor mir bremst, schlingert ein bisschen, bremst dann wieder. Ich zwinge mich dazu, die roten Bremslichter vor mir im Blick zu behalten, statt nach rechts zu schauen, dahin, wo meine Heimatstadt liegt. Der Himmel ist seltsam grau. Irgendwie ist das Wetter hier immer schlecht. Ich zünde die nächste Zigarette an (böses, böses Mädchen) – zwecks Ablenkung. Sobald High Wycombe hinter mir liegt, geht es mir besser. Nicht in meinen Heimatort zurückzukehren fühlt sich jedes Mal wie ein kleiner Sieg an.
Tief unten in meiner Handtasche klingelt mein Handy. Dummerweise fließt der Verkehr gerade wieder, sodass ich nicht drangehen kann. Ich habe schon sechs Punkte auf meinem Sündenkonto, und mehr kann ich nicht gebrauchen, wenn ich den Führerschein behalten will. Sobald wir wieder stoppen, greife ich zum Telefon und rufe meine Mailbox ab.
«Hallo? Ms. Blake? Hier ist Annie. Annie Gardner. Es tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereite, aber ich schaffe es nicht um Viertel nach neun. Ich
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