Du und ich und all die Jahre (German Edition)
habe eine Besprechung. Wir könnten uns stattdessen zum Mittagessen treffen. Es tut mir sehr leid, dass ich so kurzfristig absagen muss. Bitte rufen Sie mich zurück.»
Ich bin ein bisschen erleichtert. Es ist wie Schneefrei in der Schule, wenn eine Klassenarbeit ansteht. Ein kurzer Aufschub des Unvermeidlichen. Da der Verkehr noch immer steht, rufe ich Annie zurück und sage ihr, dass wir uns gern zum Mittagessen treffen können. In Browns Restaurant um ein Uhr.
Als ich endlich in Oxford ankomme, ist es schon nach zehn. Es ist also wirklich gut, dass Annie diese Besprechung dazwischengekommen ist. Bis zum Mittagessen muss ich noch ein bisschen Zeit totschlagen, aber der Himmel über Oxford ist klar. Es ist ein sonniger, kalter Wintertag, perfekt für einen Bummel durch eine der schönsten Städte Englands. Vor allem, da gerade Semesterferien sind: Ohne Studenten und mit wenig Verkehr ist Oxford das reine Vergnügen.
Ich parke beim Einkaufszentrum am Bahnhof und gehe die George Street hinunter in die Stadt. Am Balliol und am Trinity College vorbei, am Sheldonian, dem Theater, und an der weltberühmten Bibliothek. Beim King’s Arms biege ich rechts ab und steuere das Zentrum des Universitätscampus an. In jeder Straße, an jeder Ecke sehe ich Gespenster. Alex und ich wanken nach einem langen, alkoholgeschwängerten Nachmittag in der Turf Tavern die Holywell Street entlang, singen aus voller Kehle, eingehakt, mit Kebab in den Händen. Alex hat sich ihr Abendkleid ausgezogen und springt, nur in Unterwäsche, an einem eiskalten Morgen im Mai von der Magdalen Bridge – es ist unser zweites Studienjahr, und wir verstoßen gegen alle Regeln der Universität. Ich muss gegen meinen Willen lächeln, sogar laut lachen. Die Touristen, an denen ich vorbeikomme, sehen mich misstrauisch von der Seite an.
Schließlich drehe ich um und gehe den unvermeidlichen Weg: die Parks Road entlang auf unser altes College zu. Ich kann uns vor mir sehen, Alex und mich, wie wir uns im Garten von Rhodes House sonnen und im Park Wein trinken. Es war ein unerträglich heißer Sommer, als Julian mich besuchte, um unseren Jungs beim Kricket zuzusehen. Ich erreiche das Eichenholztor am Eingang des Colleges und trete mit Schmetterlingen im Bauch über die Schwelle.
«Kann ich Ihnen helfen?» Ein Pförtner kommt mit missmutigem Gesicht aus seiner Loge.
«Ich würde gerne einen Blick hineinwerfen …»
«Das College ist für Besucher geschlossen», sagt er barsch und deutet auf ein Schild, auf dem genau das steht.
«Ich habe hier studiert. Das ist mein altes College.»
«Für Besucher geschlossen», wiederholt er. «Während des Semesters ist es geöffnet.»
«Ich wollte nur …»
«Geschlossen», sagt er scharf und schiebt mich zur Seite. Die Pförtner hier waren schon immer besonders schlecht gelaunt. Während ich langsam das College umrunde und den Weg in Richtung St Giles einschlage, sehe ich ein weiteres Bild vor mir: Alex und ich müssen uns eine Strafpredigt von einem der Pförtner anhören, weil wir zu laut waren, als wir spätabends ins College zurückgekommen sind. Und was macht Alex? Sie zieht ihren Rock hoch und zeigt ihm ihren nackten Hintern. Wieder muss ich kichern. Bei allem, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, vergesse ich manchmal, wie glücklich wir früher waren. Es war damals einfach unmöglich, unglücklich zu sein, wenn man mit Alex zusammen war.
An der Straßenecke zwischen Keble Road und St Giles befindet sich ein Kaffeestand – der ist neu, zu meiner Zeit war der noch nicht da. Ich kaufe mir einen großen Caffè Latte und suche mir ein ruhiges Plätzchen auf einer Bank auf dem Friedhof von St Giles. Hier ist es durch eine Reihe Fichten windgeschützt, und die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich lehne mich auf der Bank zurück, schließe die Augen und versuche, nicht über den Tag nachzudenken, der vor mir liegt. Nach einer Weile, ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist, spüre ich, wie ein Schatten auf mich fällt, und öffne die Augen wieder.
«Ist mit Ihnen alles in Ordnung?» Der Pastor.
«Entschuldigung», sage ich und stehe auf. «Vermutlich sehen Sie es nicht gern, wenn man sich hier grundlos aufhält.»
Der Pastor lacht. Er hat ein breites, offenes Gesicht und fürchterliche Zähne, gelb und voller Lücken. «Überhaupt nicht. Bleiben Sie ruhig sitzen, solange Sie möchten.» Er fordert mich mit einer Handbewegung dazu auf, mich wieder hinzusetzen, und nimmt neben mir Platz. «Es
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