Du und ich und all die Jahre (German Edition)
ist ein bisschen wärmer heute, nicht?»
«Hmm-hmm.»
«Sind Sie zu Besuch hier?»
«Nur heute.»
«Haben Sie sich die Sehenswürdigkeiten schon angeschaut? Es ist ein ganz schöner Aufstieg, aber ich würde Ihnen trotzdem empfehlen, auf den Turm von St Mary’s zu klettern. Von dort hat man einen wunderbaren Blick.»
«Ach so, ich bin früher schon hier gewesen. Ich habe hier studiert. Vor langer, langer Zeit.»
Er lächelt mir zu. «So lange kann das noch nicht her sein. Haben Sie schöne Erinnerungen an diese Jahre?»
«Phantastische», sage ich und fühle, wie mir Tränen in die Augen steigen. Lächerlich. Vielleicht bekomme ich meine Tage. Ich ziehe ein Taschentuch aus meiner Handtasche. «Entschuldigung», sage ich beschämt, «irgendwie werde ich immer nostalgisch, wenn ich nach Oxford komme – verlorene Jugend, verpasste Chancen, all das eben.»
«Verlorene Jugend?» Er muss laut lachen. «Ich bin dreiundsechzig.»
«Sie wissen schon, was ich meine. Es ist nur so … Wenn man nach Oxford kommt, mit achtzehn, neunzehn, ist man noch so überzeugt davon, dass man alles schaffen kann, dass irgendwann bestimmt etwas Großartiges aus einem wird, dass man unbesiegbar ist. Es ist natürlich lächerlich, aber ich sehne mich nach diesem Gefühl zurück.»
«Wie man sich fühlt, ehe man lernt, Kompromisse zu schließen», sagt der Pastor mit einem schiefen Lächeln. «Bevor die Realität einen einholt.»
«Genau. Und mir fehlen die Freunde von damals.»
«Haben Sie denn keinen Kontakt mehr?»
«Mit einigen schon. Aber nicht mit allen.»
«Das sollten Sie unbedingt ändern. Man darf nie leichtfertig eine Freundschaft wegwerfen. Je älter Sie werden, desto schwieriger wird es, neue zu schließen. Bewahren Sie die, die Sie haben, um jeden Preis.» Er bekräftigt seine Worte mit einem Nicken. «Außerdem gibt es heutzutage doch alle diese sozialen Netzwerke, oder nicht? Spacebook, Myface und wie sie alle heißen. Damit ist es viel leichter, Menschen wiederzufinden.»
Einen Augenblick lang sitzen wir still da, dann steht er auf und will gehen.
«Mein Vater hat Krebs», platze ich plötzlich heraus. Der Pastor setzt sich wieder.
«Oh nein, meine Liebe», sagt er und legt mir eine Hand auf den Arm, «das tut mir sehr leid. Wie stehen seine Chancen?»
«Gar nicht so schlecht», sage ich. «Aber ich bin mir nicht ganz sicher. Wir reden nicht miteinander. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen.»
Als ich im Restaurant eintreffe, ist Annie Gardner bereits da. Sie ist klein und schmal und trägt ihre dunklen Haare in einem akkurat geschnittenen Bob. Als ich auf sie zugehe, steht sie auf und streckt mir ihre Hand zur Begrüßung entgegen.
«Das mit heute Morgen tut mir leid», sagt sie so leise, dass ich sie kaum verstehen kann. «Es ging leider nicht anders.» Sie wirkt nervös und angespannt und weicht meinem Blick aus.
«Kein Problem», erwidere ich und setze ein strahlendes Lächeln auf. «So hatte ich Gelegenheit, ein bisschen durch die Stadt zu bummeln. Ich bin seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen.» Ich klinge schon jetzt zu jovial, zu sehr darauf bedacht, dass ich ihr sympathisch bin.
Wir geben unsere Bestellung auf – einen Salat für sie und Fish and Chips für mich.
«Wie wäre es mit einem Glas Wein?», frage ich.
«Oh nein, ich muss nachher wieder zurück zur Arbeit, und ich bekomme nichts zustande, wenn ich zum Mittagessen Alkohol getrunken habe.»
«Ach kommen Sie», versuche ich sie zu überreden, «ein Glas?» Je entspannter sie nachher ist, desto eher schaffe ich es, sie zu überreden, bei der Sendung mitzumachen. Sie stimmt zögernd zu, und ich lasse meine vorbereitete kleine Ansprache vom Stapel. Ich erzähle ihr, wie hilfreich die Sendung für sie sein kann, dass sie ihr die Gelegenheit gibt, mit erfahrenen Therapeuten zu sprechen, die ihr wirklich dabei helfen können, ihre Familie wieder zusammenzubringen.
Sie schüttelt niedergeschlagen den Kopf. «Ich weiß es einfach nicht», sagt sie. «Ich weiß nicht, ob es richtig ist. Sie verstehen das nicht …»
«Im Gegenteil, Annie», unterbreche ich sie schnell, «ich verstehe Sie durchaus. Ich weiß, wie Sie sich fühlen.»
Sie schmunzelt. Sie ist sehr hübsch, wenn sie lächelt.
«Das bezweifle ich.»
«Natürlich war ich nicht in exakt der gleichen Situation wie Sie. Aber … mein Mann hat mich auch betrogen.»
Sie schaut mich zweifelnd an und ist offenbar nicht sicher, ob sie mir glauben soll. Genau das ist aber
Weitere Kostenlose Bücher