Du und ich und all die Jahre (German Edition)
auf, kam jedoch nicht mehr dazu, mich lange meines Glücks zu freuen. Ein Junge segelte wie aus dem Nichts auf mich zu. Er rannte einem Frisbee hinterher und direkt in mich hinein. Das war’s – ich kippte um. Der Junge hielt nicht einmal an. Eine Woge von Gelächter brandete unter den Umstehenden auf, nur ein einziger mitfühlender Mensch half mir auf die Füße. Ich klopfte meine Kleider ab und lächelte der johlenden Menge jämmerlich zu. Dann sammelte ich mein Tablett auf, wünschte mir heimlich, im Boden zu versinken, und ging zurück an die Bar.
Dort bezog ich gerade Posten, als mir jemand auf die Schulter tippte und sagte: «Echt dumm gelaufen.» Ich drehte mich um und blickte in die grünen Augen eines braun gebrannten Mannes mit unordentlichen schwarzen Haaren. Er trug weite Surfer-Shorts, ein schmutziges weißes T-Shirt und hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Ich holte Luft, wollte etwas erwidern, war aber schlicht sprachlos.
«Von allen Strandpartys auf der ganzen Welt …», sagte er mit einem beiläufigen Lächeln.
«Aidan?», fragte ich, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte. «Aidan? Bist du es wirklich? Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst in Indien. Oder Pakistan. Irgendwo in Asien.»
«War ich auch. Jetzt bin ich hier.» Er umarmte mich. Ich versuchte noch immer zu begreifen, wie es sein konnte, dass ich ungefähr sechzigtausend Meilen von zu Hause entfernt zufällig jemanden traf, den ich kannte. Aidan hingegen schien dieser Zufall keinerlei Kopfzerbrechen zu bereiten.
«Sollen wir noch mal versuchen, dir was zu trinken zu besorgen?», fragte er.
Ich wand mich innerlich vor Peinlichkeit. Da sieht man jemanden jahrelang nicht, und wenn man ihn wiedertrifft, fliegt man als Erstes kopfüber in den Sand und wirft mit Getränken um sich. Typisch. So was wäre Alex nie passiert. Und Julian auch nicht. Nur mir.
«Was möchtest du denn?», erkundigte sich Aidan.
«Gin Tonic», antwortete ich, «aber nicht nur für mich …»
«Ey, Joe!», brüllte Aidan in einer unglaublichen Lautstärke über die Köpfe der Menge hinweg.
Einer der Barkeeper sah uns an. «Ja, Chef!», rief er zurück.
«Ein Gin Tonic und ein Bier, Castle!»
«Ja, Chef!»
«Mach zwei Castle draus!»
«Ja, Chef!»
Aidan drehte sich zu mir um und grinste mich an. «Du bist doch alt genug, um Alkohol zu trinken, oder?»
Wenige Augenblicke später hielt ich meinen Gin Tonic in der Hand.
«Wenn man weiß, wie’s geht, ist es ganz einfach», sagte ich zu ihm.
«Joe steht hinter der Bar in dem Hotel, in dem ich wohne. Er arbeitet hier schwarz. Dreiundzwanzig, Vater von drei Kindern und das vierte ist unterwegs. Der braucht das Geld. Komm, wir setzen uns irgendwohin.» Er legte mir die Hand auf den Rücken und dirigierte mich zu einem Teil des Strands, an dem weniger los war.
«Alex – bei der ich zu Besuch bin – wartet bestimmt auf mich», sagte ich, ohne wirklichen Widerstand zu leisten.
«Aber ich habe dir einen Drink spendiert! Jetzt musst du dich dafür mit mir unterhalten. Du bist sogar verpflichtet, dich mit mir zu unterhalten. Wenigstens fünf Minuten. Ist Gesetz hier.»
Wir fanden einen Platz an einem Lagerfeuer und setzten uns in den Sand.
«Na», sagte er und musterte mich von Kopf bis Fuß. «Nicole Blake. Schau an, du bist erwachsen geworden.»
Ich spürte, wie ich unter seinen Blicken rot wurde. Er grinste ein nerviges Ich-kann-deine-Gedanken-lesen-Grinsen und fragte: «Wusstest du nicht, dass du zu einer Strandparty gehst?»
«Ich war vorher auf einer Cocktailparty», erwiderte ich ein bisschen steif, «und hatte keine Zeit, mich umzuziehen.»
«Oh, eine Cocktail party», sagte er mit schnöseligem britischem Akzent. «Na dann.» Er zündete sich eine Zigarette an und wollte mir auch eine geben. Ich lehnte ab.
«Braves Mädchen», sagte er und klopfte mir auf die Schulter.
Herablassendes Arschloch! Was fand ich nur an diesem Kerl? Warum wollte ich ihn ohrfeigen und gleichzeitig ihm die Kleider vom Leib reißen? Ersteres war klar, aber seine Anziehungskraft auf mich konnte ich nicht so leicht erklären. Schön, er sah gut aus, ja, okay, er sah genau wie Julian aus, aber da war noch irgendetwas anderes, Unbestimmbares … Er strahlte eine Leichtigkeit aus, eine Unangepasstheit, die ich unwiderstehlich fand. Ich wollte ihn unbedingt küssen.
«Ich muss los», sagte ich und stürzte so viel von meinem Gin Tonic herunter, wie ich in einem Zug schaffte. Wäre ich nämlich länger
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