Du wirst die Schoenste sein
Freundin oder ich las. Ab und zu leistete ich mir Lesestoff aus der deutschen Buchhandlung in Palma und stöberte auch im Buchantiquariat in der Calle Olmos.
Eines Abends, ich war auf dem Weg zu meinem Zimmer, wühlte ich in meiner Korbtasche nach dem Feuerzeug für die Feierabendzigarette und hatte plötzlich jene Visitenkarte wieder in der Hand. Geradezu reflexartig griff ich nach meinem Handy. Weshalb ist mir im Grunde schleierhaft. Fühlte ich mich derart einsam unter all den Touristen, die nach dem Abendessen über die Strandpromenade bummelten? Oder trieb mich leichtsinnige Lust auf ein Ausbrechen aus diesem durchorganisierten Tagesablauf dazu? Oder reiner Übermut? Jedenfalls tippte ich die Nummer von der Visitenkarte in mein Handy. Es gab übrigens nichts weiter darauf als einen Vornamen und jene Nummer.
„Digame“, hörte ich eine Männerstimme sagen.
„Spreche ich mit Ernesto?“
„Ah, die Kleine ... ich erinnere mich. Die Kleine aus dem Moccacino.“
„Richtig, die kleine Blonde mit den tollen Locken.“
Ein Mopedfahrer bretterte auf der schmalen Straße dicht neben mir vorbei.
„Wie bitte?“
Ich wiederholte meine Worte. Tatsächlich war ich weder blond noch hatte ich auch nur eine einzige Locke.
„Von wegen blond. Im Gegenteil, Sie haben dunkle, glatte Haare. Ich erinnere mich deutlich.“
„Und klein bin ich auch nicht“, sagte ich geradezu triumphierend.
Was aber vermutlich unterging, da jetzt ein Getränkelaster vorbeidonnerte.
„Wo sind Sie? Dem Verkehr nach auf d er Avenida Jaime Tercero. Nein, klein sind Sie nicht. Ich schätze mal eher einssechsundsiebzig und Sie trugen damals ... Moment ... war es nicht ein kurzer, weißer Rock und ein bunt bedrucktes Oberteil?“
Das überraschte mich, denn es stimmte vermutlich.
Als ich nach meinem Namen gefragt wurde, war die Verständigung erneut schwierig. Diesmal lag es an einem halbleeren Bus, der vorüber rauschte. Mein Gesprächspartner verstand Thea anstatt Andrea. Ich verbesserte ihn nicht.
„Wie wäre es denn mit einer weiteren Begegnung im Moccacino? Aber diesmal an einem Tisch. Sagen wir morgen um elf?“
„Sorry.“ Ich erklärte ihm das Problem meines einzigen freien Tages pro Woche.
„Das nenne ich Sklavenausbeutung. Kündigen Sie auf der Stelle.“
Ein leider unmöglicher Vorschlag. Aber witzig gebracht. Weshalb ich diesem Ernesto einen Pluspunkt zugestand. Andererseits E r n e s t o, für mich eine lächerliche Aufwertung für den schlichten deutschen Namen Ernst.
„Moment. Und wie wäre es mit einer Party am Freitag? Nichts Großartiges, nur ein paar Freunde und Bekannte. Ich lasse Sie abholen, wenn Sie mir sagen wo.“
Party hörte sich für mich nicht übel an. Party war zu jener Zeit ein regelrechtes Reizwort für mich. Vor allem in den Tagen nach dem Abi hatte eine Party die nächste gejagt. Ich überredete Agnes, die allabendliche Mini-Disco, die Hüpferei für die Jüngsten, am Freitag ausnahmsweise abzukürzen, damit ich rechtzeitig abhauen konnte. Eine von uns war für die Musikanlage zuständig, während die andere mit den Kleinen den Superman- und Musik-Man-Tanz durchzog.
Den ganzen Freitag über war ich total aufgekratzt, war auf Hochtouren gelaufen, hatte rumgequatscht, gelacht. Brennend vor Nervosität maß ich mir Bedeutung zu, fühlte mich geradezu als VIP, schließlich stand, wie ich aus einschlägigen Magazinen wusste, nur very important persons ein Chauffeur für den Party-Shuttle zur Verfügung. Als ich mich dann aber gegen halb zehn dem Treffpunkt Eisdiele VESUVIO näherte und ich die schwere Limousine entdeckte, verging mir plötzlich meine Abenteuerlust. Alles, was ich bisher erfolgreich verdrängt hatte, stürzte jetzt überdeutlich auf mich ein. Weder kannte ich Ernestos vollständigen Namen noch seine Adresse. Was hatte Uli gegrölt, als er bei unserer school-good-bye-Party von meinen Mallorca-Plänen gehört hatte? „Hüte dich vor Meer und Wind und Deutschen, die im Ausland sind“. Und meine Eltern hatten in dasselbe Horn geblasen mit der Bemerkung, Ausland sei natürlich auch idealer Rückzugsort für unsaubere Existenzen und hatten mich zur Vorsicht gemahnt. Tatsächlich fühlte ich mich plötzlich als das junge, naive Ding, das sich bedenkenlos in der einsetzenden Dämmerung von einem Wildfremden weiß der Teufel wohin kutschieren ließ.
Ich drückte mich tiefer in die Gasse gegenüber der Eisdiele. Eine Minute lang, fünf Minuten. Darauf hoffend, der Fahrer des
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