Dublin Street - Gefaehrliche Sehnsucht
grausam sein, das wusste ich. Er war neugierig; er wollte es wissen. Das war nachvollziehbar. Aber ich dachte, wir würden uns verstehen. Ich dachte, er würde mich verstehen.
Und dann begriff ich, dass er mich vermutlich gar nicht verstehen konnte. »Braden, ich weiß, dass dein Leben nicht leicht war, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie verkorkst meine Vergangenheit ist. Sie ist ein einziger großer Haufen Scheiße. Kein Ort, wo ich dich mit hinnehmen möchte.«
Er setzte sich auf und schob sein Kissen gegen das Kopfende des Betts, und ich drehte mich auf die Seite, um zu ihm hochzuschauen, als er auf mich herunterblickte. In seinen Augen stand ein Schmerz, den ich noch nie zuvor dort gesehen hatte. »Ich weiß, was verkorkst bedeutet, Jocelyn, glaub mir.«
Ich wartete, spürte, dass noch mehr kommen würde.
Und richtig, er seufzte, und sein Blick glitt über mich hinweg zum Fenster. »Meine Mum ist die selbstsüchtigste Frau, die ich kenne, und ich kenne sie noch nicht einmal sehr gut. Die Sommerferien musste ich immer mit ihr verbringen, kreuz und quer durch Europa reisen und vom Geld jedes traurigen Sacks leben, den sie aufreißen konnte. Während des Schuljahres lebte ich bei meinem Dad in Edinburgh. Douglas Carmichael konnte ein schroffer, abweisender Mistkerl sein, aber er war ein Mistkerl, der mich geliebt hat, und das war mehr, als ich von meiner Mutter je zu erwarten hatte. Und Dad habe ich Ellie und Elodie zu verdanken. Wegen Elodie hatte ich allerdings Auseinandersetzungen mit meinem Vater. Sie ist eine gute, warmherzige Frau, und Dad hätte sie nie so schlecht behandeln dürfen wie all die anderen. Aber genau das hat er getan. Zum Glück ist sie jetzt mit Clark zusammen, und Ellie hat wenigstens einen Bruder, der alles für sie tun würde. Mein Dad ist zwar auf seine Weise liebevoll mit Ellie umgegangen, hat sich aber nie viel um sie gekümmert. Bei mir hat er ständig Druck gemacht. Und ich war nicht gerade ein Engel und habe mich heftig dagegen aufgelehnt, in die Fußstapfen meines Daddys zu treten.« Mit einem leisen Schnauben schüttelte er über sich selbst den Kopf. »Wenn wir doch nur die Zeit zurückdrehen und den Kids, die wir damals waren, ein bisschen Vernunft einprügeln könnten.«
Ja. Wenn doch nur.
»Ich habe angefangen, mit den falschen Leuten herumzuhängen, zu kiffen, mich zu betrinken und andauernd in Schlägereien zu geraten. Ich war wütend. Auf alles und jeden. Und ich habe gern meine Fäuste eingesetzt, um diese Wut abzureagieren. Ich war neunzehn und mit einem Mädchen aus einer miesen Gegend der Stadt zusammen. Ihre Mum saß im Gefängnis, ihr Dad hatte sich abgesetzt, und ihr Bruder war ein Junkie. Nettes Mädchen, schlechtes familiäres Umfeld. Eines Nachts stand sie vor meiner Tür, total aufgelöst und hysterisch.« Seine Augen verschleierten sich bei der Erinnerung, und ich wusste instinktiv, dass er als Nächstes etwas unvorstellbar Scheußliches sagen würde. »Sie weinte und zitterte, und ihr Haar war mit Erbrochenem verklebt. Als sie an diesem Abend nach Hause gekommen war, war ihr Bruder so mit Drogen vollgedröhnt, dass er sie vergewaltigt hat.«
»Großer Gott«, entfuhr es mir. Es zerriss mir das Herz um das Mädchen, das ich nie gekannt hatte, und um Braden, weil das jemandem zugestoßen war, an dem ihm etwas lag.
»Ich habe nur noch rotgesehen. Bin ohne nachzudenken davongestürmt und den ganzen verdammten Weg zu seiner Wohnung gerannt, so sehr stand ich unter Adrenalin.« Er brach ab und biss die Zähne zusammen. »Jocelyn, ich hätte ihn um ein Haar totgeschlagen.« Er blickte reumütig auf mich hinab. »Ich bin nun einmal groß und kräftig«, flüsterte er. »Das war ich schon als Teenager. Mir war gar nicht bewusst, wie viel Kraft ich habe.«
Ich konnte nicht glauben, dass er mir das erzählte. Ich konnte nicht glauben, dass ihm das passiert war. Braden, von dem ich geglaubt hatte, dass seine Welt aus eleganten Restaurants und schicken Apartments bestand. Anscheinend hatte er eine Zeitlang in einer ganz anderen Welt gelebt. »Was ist dann passiert?«
»Ich bin gegangen, habe anonym einen Krankenwagen gerufen und ihr erzählt, was ich getan hatte. Sie machte mir keine Vorwürfe. Tatsächlich haben wir uns gegenseitig gedeckt, als die Polizei ihn fand. Ihr Bruder war ein stadtbekannter Junkie, es gab keine Zeugen, und sie gingen einfach davon aus, dass der Täter im Drogenmilieu zu suchen war. Der Junge lag ein paar Tage im Koma. Die schlimmsten
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