Dubliner (German Edition)
mir ein, wieder das aufgedunsene, graue Gesicht des Paralytikers vor mir zu sehen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und versuchte an Weihnachten zu denken. Aber das graue Gesicht verfolgte mich. Es murmelte, und ich begriff, dass es etwas beichten wollte. Ich fühlte, wie sich meine Seele in eine angenehme und böse Region zurückzog, und auch dort wartete esschon auf mich. Es begann, mir mit murmelnder Stimme zu beichten, und ich überlegte, warum es wohl andauernd lächelte und warum die Lippen so feucht von Speichel waren. Dann fiel mir ein, dass es an Paralyse gestorben war, und ich merkte, dass auch ich schwach lächelte, als wollte ich den Simonisten von seiner Sünde lossprechen.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging ich hin, um mir das kleine Haus unten in der Great Britain Street anzusehen. Es war ein bescheidener Laden, der unter der verschwommenen Bezeichnung Tuchwaren geführt wurde. Die Tuchwaren bestanden hauptsächlich aus wollenen Kinderschühchen und Schirmen, und an gewöhnlichen Tagen hing immer ein Schild im Fenster mit der Aufschrift Neubespannung von Schirmen . Jetzt war kein Schild zu sehen, denn die Fensterläden waren angebracht. Ein Trauerbukett war mit Bändern am Türklopfer befestigt. Zwei arme Frauen und ein Telegrammbote lasen gerade die Karte, die an das Bukett geheftet war. Ich ging auch hin und las:
l. Juli 1895
Pfarrer James Flynn
(vormals S. Catherine’s Church, Meath Street),
im Alter von 65 Jahren.
R.I.P.
Das Lesen dieser Karte überzeugte mich davon, dass er tot war, und ich war verstört, weil ich mich damit zufriedengab. Wäre er nicht tot gewesen, wäre ich in das dunkle kleine Zimmer hinter dem Laden gegangen, wo ich ihn in seinem Sessel am Kaminfeuer gefunden hätte, halb versunken in seinem Überzieher. Vielleicht hätte mir meine Tante ein Päckchen High Toast für ihn mitgegeben, und dieses Geschenk hätte ihn aus seinem wie betäubten Dahindämmern aufgeweckt. Immer war ich es, der das Päckchenin seine schwarze Schnupftabaksdose entleerte, denn seine Hände zitterten zu sehr, um dies tun zu können, ohne die Hälfte des Schnupftabaks auf den Boden zu schütten. Selbst wenn er seine große zitternde Hand zur Nase hob, rieselten Wölkchen von Tabak zwischen seinen Fingern hindurch auf seinen Rock. Er war vielleicht dieser fortwährende Schnupftabaksregen, der seinem alten Priesterrock sein grünlich verschossenes Aussehen verlieh, denn das rote Taschentuch, immer geschwärzt von den Tabakflecken einer ganzen Woche, mit dem er die herabgefallenen Krümel wegzuwischen versuchte, war völlig wirkungslos.
Ich wäre gern hineingegangen, um ihn zu sehen, aber ich hatte nicht den Mut anzuklopfen. Langsam ging ich auf der sonnigen Seite der Straße davon und las im Vorbeigehen alle Theateranzeigen in den Schaufenstern. Ich fand es befremdlich, dass weder ich noch der Tag in Trauerstimmung waren, und ich war sogar verärgert, ein Gefühl der Freiheit in mir zu entdecken, als hätte mich sein Tod von etwas befreit. Ich grübelte darüber, denn er hatte mir, wie mein Onkel am Abend zuvor gesagt hatte, eine Menge beigebracht. Er hatte am Irischen Kolleg in Rom studiert und mir beigebracht, das Lateinische richtig auszusprechen. Er hatte mir Geschichten über die Katakomben und über Napoleon Bonaparte erzählt, er hatte mir die Bedeutung der verschiedenen Zeremonien während der Messe erklärt und die der verschiedenen Gewänder, die der Priester trägt. Manchmal hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, mir schwierige Fragen zu stellen, zum Beispiel, wie man sich unter bestimmten Umständen zu verhalten habe oder ob es sich bei dieser oder jener Sünde um eine Todsünde oder eine lässliche Sünde oder nur um eine menschliche Verfehlung handele. Seine Fragen machten mir klar, wie komplex und geheimnisvoll gewisse kirchliche Bräuche waren, die ich bis dahin für ganzeinfache Handlungen gehalten hatte. Die Pflichten des Priesters gegenüber der Eucharistie und gegenüber dem Beichtgeheimnis * erschienen mir so schwerwiegend, dass ich mich fragte, wie jemand den Mut aufbringen konnte, sie auf sich zu nehmen; und es überraschte mich nicht, als er mir sagte, die Kirchenväter hätten Bücher geschrieben, so dick wie das städtische Adressbuch und so eng gedruckt wie die Gerichtsmitteilungen in der Zeitung, in denen sie all diese verwickelten Fragen erörterten. Oftmals, wenn ich daran dachte, brachte ich entweder gar keine oder nur eine ganz dumme und zögernde
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