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Duddits - Dreamcatcher

Duddits - Dreamcatcher

Titel: Duddits - Dreamcatcher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Umarmung des Baums, und ihm klangen immer noch die Ohren – Gott, ihm klang der ganze Kopf –, ging einen Schritt vor und konnte es kaum fassen, dass er noch am Leben war. Er berührte seine Nase, und als er die Hand wegnahm, war seine Handfläche voller Blut. In seinem Mund war etwas lose. Er hielt sich eine Hand davor, spuckte einen Zahn aus, schaute ihn verwundert an und warf ihn dann weg, seinem ersten Impuls widerstehend, ihn in die Manteltasche zu stecken. Soweit er wusste, ließen sich Zähne nicht wieder einsetzen, und er bezweifelte doch sehr, dass die Zahnfee bis hier heraus in die Wildnis kam.
    Er wusste nicht mit Bestimmtheit, wer da geschrien hatte, hatte aber so eine Ahnung, dass Pete Moore gerade so richtig übel in der Scheiße steckte.
    Henry lauschte, ob er noch andere Stimmen, andere Gedanken hörte, aber es kam nichts. Ausgezeichnet. Aber er musste schon zugeben, dass sich das hier, auch ungeachtet der Stimmen, zu einem ziemlich einmaligen Jagdausflug gemausert hatte.
    »Lauf, mein Großer, lauft, ihr Huskys!«, sagte er und joggte wieder in Richtung ihrer Hütte los. Das Gefühl, dass dort etwas gar nicht stimmte, war übermächtiger denn je, und er konnte weiter nichts tun, als sich zu schnellem Trab anzuhalten.
    Guck mal im Nachttopf nach.
    Wieso klopfen wir nicht einfach an der Badtür an und fragen ihn, wie’s ihm geht?
    Hatte er diese Stimmen wirklich gehört? Ja, jetzt waren sie zwar fort, aber er hatte sie gehört, genau wie er diese schrecklichen Schmerzensschreie gehört hatte. Pete? Oder war es die Frau gewesen? Die hübsche Becky Shue?
    »Pete«, sagte er, stieß das Wort in einer Dampfwolke aus. »Pete war’s.« Immer noch nicht völlig sicher, aber doch ziemlich sicher.
    Erst fürchtete er, er würde nicht wieder zu seinem Rhythmus finden können, doch dann, noch während er sich darüber Gedanken machte, hatte er ihn schon wieder – das Zusammenspiel seines hechelnden Atems und seiner hastenden Schritte, wunderbar in seiner Schlichtheit.
    Drei Meilen noch nach Banbury Cross, dachte er. Nach Hause. Genau wie wir Duddits an diesem Tag nach Hause gebracht haben.
    (Wenn ihr irgendwem erzählt, dass ich das gemacht habe, spreche ich kein Wort mehr mit euch.)
    Henry kehrte zu diesem Oktobernachmittag zurück wie in einen Traum. Er fiel so schnell und so tief in den Brunnen der Vergangenheit, dass er die Wolke zunächst nicht bemerkte, die auf ihn zuraste, die Wolke, die nicht aus Worten oder Gedanken oder Schreien bestand, sondern nur aus ihrem rotschwarzen Selbst, einem Ding, das Ziele und Pläne hatte.

5
    Biber tritt vor, zögert noch einen Moment, kniet sich dann hin. Der Behinderte sieht ihn nicht; er schreit und weint immer noch, die Augen zugepresst, die schmale Brust bebend. Seine Unterhose sieht genauso lächerlich aus wie Petes alte Motorradjacke mit den vielen Reißverschlüssen dran, aber keiner der Jungs lacht. Henry will nur, dass der Kleine aufhört zu weinen. Dieses Weinen bringt ihn um.
    Biber rutscht auf den Knien ein bisschen nach vorn und nimmt den weinenden Jungen dann in die Arme.
    »Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht …«
    Henry hat Biber noch nie singen hören, höchstens mal zum Radio mitsingen – die Clarendons sind ganz bestimmt keine Kirchgänger –, und ist verblüfft über die klare, schöne Tenorstimme seines Freunds. Ein gutes Jahr später wird der Biber in den Stimmbruch kommen, und anschließend wird seine Stimme kaum noch bemerkenswert sein, aber jetzt, auf der mit Unkraut überwucherten Freifläche hinter dem leer stehenden Gebäude, sind sie alle berührt davon und erstaunt darüber. Und auch der behinderte Junge reagiert darauf; er hört auf zu weinen und schaut Biber verwundert an.
    »Mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck’. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.«
    Als das Lied verklingt, hält für einen Moment die ganze Welt vor lauter Schönheit den Atem an. Henry ist den Tränen nah. Der behinderte Junge schaut Biber an, der ihn im Takt des Lieds in den Armen gewiegt hat. Sein tränenüberströmtes Gesicht zeigt glückseliges Erstaunen. Er hat seine aufgerissene Lippe vergessen und die Schramme auf seiner Wange, seine fehlende Kleidung und die verlorene Lunchbox. Zu Biber sagt er Iehr, eine Silbe, die alles Mögliche bedeuten könnte, aber Henry versteht ihn auf Anhieb und sieht, dass auch Biber ihn versteht.
    »Mehr kann ich nicht«, sagt der Biber.

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