Duell auf offener Straße
immer mehr Menschen ist das Leben geprägt von raschem Wandel, Druck und Veränderung ohne den notwendigen Halt oder die Erdung durch Familie, Religion und Beruf. Die daraus resultierende Unruhe übersteigt das natürliche Anpassungspotenzial vieler.
Wie ist das bei Hunden? Auch sie können überfordert sein und deshalb „aus dem Fell fahren“, wenn sie ständig Leistung bringen, permanent Er-wartungen erfüllen müssen, unter Druck gesetzt werden und gleichzeitig zu wenig Ruhezeiten und Freiräume bekommen. An der Leine fehlt ihnen zudem die Chance, sich zu entziehen. In diesem Fall ist es wichtig herauszufinden, was den Hund immer wieder stresst. Lassen sich die Stressoren vermeiden oder lässt sich der Stress durch mehr Ruhe und Freiraum kompensieren, ist es einfach. Lassen sie sich nicht vermeiden, dann wird es schwieriger. Der Hund muss langfristig lernen, besser mit dem Stress umzugehen. Dauerstress ist sowohl die körperliche Grundlage als auch die Folge vieler psychischer Schwierigkeiten und steht in engem Zusammenhang mit Ängsten und auch Traumata. Damit sind ernsthafte Stressprobleme eindeutig therapeutische Aufträge.
Stress ist ein unangenehmer körperlicher Zustand und kann ein Nährboden für Aggression sein.
(Foto: Nadin Matthews)
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Doch eine weitere Frage sollte vor dieser Diagnose stehen: Ist es wirklich der Hund, der gestresst ist, oder leidet der Mensch vielleicht unter Stress und trägt die eigene Überforderung in die Beziehung? Viele Menschen sind der Erschöpfung erlegen und leiden unter stressbedingten Störungen. Sie neigen dazu, ihre emotionalen Zustände auf den Hund zu projizieren und empfinden vielleicht ihren Hund als gestresst, weil sie es selbst sind. Vielleicht übernimmt der Hund auch die Stimmung des Menschen. Wenn nun die Empfehlung wäre, dafür zu sorgen, dass der Hund weniger Stress hat, könnte es fatale Folgen haben. Bei gestressten Menschen ist es äußerst wichtig, dass der Hund und der tägliche Spaziergang nicht zur weiteren Baustelle werden, an der sie arbeiten müssen. Zudem wäre es auch die falsche Baustelle.
Unsicherheit
„Wenn man nicht weiß, wie man sich verhalten soll.“
Soziale Unsicherheit kann aggressives Verhalten fördern. Wer sich nicht sicher ist, wird sich sehr schnell bedroht fühlen und zu Fehlinterpretationen und auch Fehlentscheidungen neigen. Das Ergebnis an der Leine ist etwas, was so aussieht, sich anhört und anfühlt wie jede andere Leinenaggression. (Der Schmerz in der Schulter ist übrigens auch derselbe.)
Den Unterschied sieht man eher im Freilauf. Derselbe Hund, der an der Leine eben noch so entschlossen wirkte und dem anderen Hund ein gradliniges „Ich mach dich fertig, du Sau“ entgegenbellte, wirkt ohne Leine plötzlich gar nicht mehr so überzeugend und verlagert sein Gespräch eher in Richtung „Das vorhin, das war ich nicht, das war mein Bruder“ oder „Ach Gott, ich habe dich vorhin gar nicht erkannt. Wie geht es dir?“.
Wer sich unsicher in der Kommunikation mit anderen fühlt, kann zu Überreaktionen neigen.
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Unsichere Hunde sind meist nur Helden an der Leine. Im Freilauf hingegen suchen sie sich eher Opfer, die sich bereits vorher als ein solches verhalten haben. Dadurch werten sie sich selbst in ihrer Persönlichkeit auf. Doch sie sind keine Schweine, wenn überhaupt nur arme Schweine. Denn sie brauchen das aggressive Verhalten, um die Situation unter Kontrolle zu bringen und sich dadurch Sicherheit zu verschaffen.
So muss die entscheidende Frage lauten: Was verunsichert den Hund? Ist es er selbst, weil er sich vielleicht gerade in der Pubertät befindet oder krank ist? Oder ist es sein Mensch, weil er sich unklar verhält oder ihm keine Orientierung gibt, ihm dafür aber die Entscheidung überlässt? Oder sind es die anderen Hunde, mit denen er schlechte Erfahrungen gemacht hat?
Unsicherheit sollte allerdings nicht mit Angst verwechselt werden. Im Vergleich zu einem ängstlichen Hund hat der sich unsicher verhaltende Hund mehr Spielraum innerhalb seiner Strategien. Ängstliche Hunde werden in die Entscheidung gedrängt, unsichere Hunde treffen eine Entscheidung. Ängstliche Hunde kämpfen empfunden um ihr Leben, unsichere Hunde nur um Kontrolle und Struktur.
Bietet man dem unsicheren Hund mehr Sicherheit, nimmt er das Angebot in der Regel gern an. Die soziale Unterstützung führt für ihn zu einer Auflösung der unangenehmen Situation. So einfach ist es mit ängstlichen
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