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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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konnten. Auf dem grauen Bettbezug prangten dunkle Schweißflecken. In der Spiegelfront des Kleiderschranks sah er einen nackten Mann, der glänzte wie ein eingeölter Gladiator vor dem Kampf, was die auf den rechten Oberarm tätowierte blaue Woge mit den Schaumkronen noch echter wirken ließ. Das Motiv war von Katsushika Hokusais Farbholzschnitt »Die große Welle vor Kanagawa« aus dessen Zyklus »36 Ansichten des Berges Fuji« inspiriert. Es kam dem am nächsten, was sich Tjark unter einem alles verschlingenden und vernichtenden Brecher vorstellte.
    Er ging in die geräumige Wohnküche, stellte den Kaffeeautomaten an und griff nach der Fernbedienung, die auf der Echtgranit-Arbeitsplatte des Küchentresens lag. Wenige Sekunden später sprang der Bildschirm an, der an der unverputzten Mauer der früheren Lagerhalle hing. Auf N24 wurde über die aktuelle Börsenentwicklung berichtet. Die sonore Stimme des Kommentators hallte aus den Boxen einer 5.1-Anlage durch den Raum, der mit einem großen, weißen Ledersofa und sonst nicht viel möbliert war – abgesehen von dem Regal aus Klavierlack, in dem sich Tjarks Comicsammlung befand. Jedes einzelne Heft steckte in einer säurefreien Plastiktasche und war mit einer Rückenverstärkung aus Archivkarton versehen. An den Wänden hingen gerahmte Bleistiftzeichnungen von Comickünstlern wie Jack Kirby oder Sal Buscema – sündhaft teure Sammlerartikel, die Tjark in spezialisierten Galerien online erworben hatte.
    Tjark öffnete die Flügeltüren des amerikanischen Kühlschranks, nahm einen Tetrapak Orangensaft heraus und leerte ihn bis zur Hälfte. Wie es schien, setzten sich die Panikverkäufe an diesem Morgen fort, und das gefiel ihm überhaupt nicht. Innerhalb weniger Minuten nach Handelsstart war der DAX auf 6123 Punkte abgestürzt. Schuld waren die Ängste vor einer neuen Rezession in den USA und die andauernde Schuldenkrise in Europa mit weiteren Hiobsbotschaften über die Renditen von Staatsanleihen in Italien, Griechenland, Portugal und Spanien.
    Mit der freien Hand fuhr Tjark den Laptop hoch, stellte den Orangensaft zurück in den Kühlschrank und überflog die Empfehlungen einiger Analysten im Internet. Schließlich beschloss er, nichts weiter zu tun, als mit einem Kaffee ins Bad zu gehen, und stellte den Computer sowie den Fernseher wieder aus. Nachdem er lange kalt geduscht hatte, zog er sich an. Er wählte ein hellblaues Designerhemd zu der italienisch eng geschnittenen dunklen Anzughose, zog ein Paar hellbraune Schuhe dazu an, handgenähte Budapester, und nahm die Lederjacke aus dem Schrank.
    Einen Moment behielt er sie in der Hand und dachte kurz an seinen Vater, der sich ab und zu darüber lustig machte, dass Tjark seine Herkunft nicht unter einer tausend Euro teuren Rinderhaut verstecken könne. Tjark war in keiner guten Gegend aufgewachsen, und seine Eltern hatten keine großen Sprünge machen können. Er musste als Kind manche Hosen und Pullover so lange tragen, bis die Hosen Hochwasser hatten und die Ärmel der Pullover viel zu kurz geworden waren. Nicht gerade das richtige Outfit, wenn man in der Schule dazugehören wollte. Damals hatte er sich geschworen, später nie mehr etwas aus einem Secondhandkaufhaus, der Altkleidersammlung oder dem Textildiscounter tragen zu müssen, und diesen Schwur in die Tat umgesetzt – wenngleich, zugegeben, er manchmal etwas übertrieb. Aber er hielt es mit Keith Richards, der gesagt hatte: Ich mache das nicht für euch, ich mache das alles nur für mich.
    Tjark schlüpfte in die Jacke und warf den restlichen Krempel nebst der Dienstmarke in den Weekender, schob den Laptop in das dafür vorgesehene Fach, nahm den Schlüssel und verließ die Wohnung. Vor der Haustür öffnete er den Briefkasten, ließ die Tageszeitung darin liegen und zog stattdessen ein großes, weißes Kuvert hervor. Er las den Absender und wusste, was es enthielt – die Infos vom Deutschen Krebsforschungszentrum und dem Ionenstrahl-Therapiezentrum an der Uniklinik Heidelberg, die er letzte Woche angefordert hatte.
    Tjark steckte den Umschlag ungeöffnet in die Tasche, schloss die Tür hinter sich und ging zu seinem Wagen, den er am Abend zuvor noch aus der Garage der Kriminaltechnik hatte abholen dürfen. Auf der Fahrerseite gab es acht daumengroße Einschusslöcher. Er warf die Tasche auf den Rücksitz und fuhr los, um Fred abzuholen, der versprochen hatte, sein Navi mitzunehmen, damit sie dieses Nest Werlesiel nicht verpassten und stattdessen irgendwo

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