Dünengrab
Fred in der Teeküche auf einen Kaffee wartete, und erwiderte Femkes Gruß, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.
»Tjark Wolf«, stellte er sich vor und lächelte freundlich. Seine Hand fühlte sich weich an. Er wirkte sehr gepflegt, roch nach einem sportlichen Aftershave und erschien viel größer, als Femke ihn sich vorgestellt hatte. Schon wieder hätte sie sich kneifen mögen: War das zu fassen, dass sie Tjark Wolf für die Ermittlungen geschickt hatten?
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Femke und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Das ist … sehr überraschend.«
»Ja?« Sein Blick huschte über die eingerahmten Zeitungsausschnitte, tastete über ihr Gesicht und fand ihren Schreibtisch. »Ach so.« Er deutete auf das Buch. »Mein langer Schatten ist mir vorausgeeilt.«
Femke verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. »Darf ich fragen, warum man jemanden wie Sie schickt? Ich meine – es ist bloß eine Vermisstensache, und …«
Tjark machte eine abwehrende Geste. »Mein Partner und ich waren gerade frei – und nun sind wir hier. Wir alle sind Polizisten, und ich habe lediglich aus Lust und Laune etwas über unseren Beruf aufgeschrieben, das durch Zufall gut bei einem Verlag ankam, und bin da beileibe nicht der einzige Kollege. Das Buch ist meine Privatsache und hat mit dem Job überhaupt nichts zu tun. Vergessen Sie es einfach.«
Das war leichter gesagt als getan, immerhin kannte Femke einige der geschilderten Fälle bereits in- und auswendig. Die Sache mit dem Ehrenmord, die bewaffnete Geiselnahme nach dem Ausheben einer Terrorzelle, den Fall der Siebzigjährigen, die ihren achtzigjährigen Mann mit Arsen vergiftete, weil er unheilbar krank war …
»In Ordnung«, sagte Femke. Sie würde es wenigstens versuchen.
»Ich werde Ihre Presse ebenfalls ignorieren.« Tjark deute mit einem Nicken auf die Zeitungsausschnitte und zitierte eine Überschrift: »Femke Folkmer fängt Verbrecher.«
»Wahrscheinlich hat der Redakteur den ganzen Tag lang über diese Alliteration nachgedacht.«
Tjark wischte sich mit der Hand über das kurz geschnittene Bärtchen. »Wenigstens hat er ›fängt Verbrecher‹ und nicht ›Fischers Fritz‹ geschrieben.«
Femke lachte. Dann bot ihr Tjark das Du an, und Femke erzählte, nachdem Fred hinzugestoßen war, was sie in der Sache Vikki Rickmers bislang unternommen hatte. Sie zeigte den Kriminalpolizisten den Schuh und den sichergestellten Stofffetzen sowie die Aufnahmen, die sie mit dem Handy am Fundort gemacht hatte.
»Menschen«, sagte Tjark, »verschwinden gelegentlich. Vikki Rickmers gehört angesichts ihres Jobs zu einem Personenkreis, der häufig den Standort wechselt. Vielleicht arbeitet sie irgendwo anders.«
»Und lässt sich davor zusammenschlagen sowie in ein Auto zerren?« Femke setzte sich aufrecht. Sie wusste, dass viele Gesuchte nach ein paar Tagen wieder auftauchten, weil sie irgendwo zu Besuch oder im Kurzurlaub waren, ohne Bescheid gesagt zu haben. Die Hälfte aller Vermisstenmeldungen erledigte sich innerhalb einer Woche, drei Viertel innerhalb eines Monats und mehr als fünfundneunzig Prozent innerhalb eines Jahres. Aber bei Vikki lag die Sache anders. Davon war Femke mittlerweile überzeugt.
»Der Zeuge kann sich das auch ausgedacht haben«, sagte Tjark. »Alte Leute machen sich manchmal wichtig. Betrunkene Teenager spielen Menschen gerne Streiche.«
»Und der Schuh? Und der Stofffetzen?«
»Sie belegen nicht, dass ein Gewaltdelikt vorliegt.«
»Der Notruf …«
»Es gibt Software, Vocoder, die die Stimme eine Oktave höher oder tiefer pitchen. Kannst du als App kriegen.«
Femke öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn dann aber wieder und sagte nichts.
Fred fragte: »Hat Vikki Verwandte in der Gegend? Gibt es einen Freund?«
»Nein.«
»Woher weißt du das?«
Femke blickte aus dem offen stehenden Fenster und blinzelte in die Sonne. Sie sog den Duft der Geranien durch die Nase ein. »Ich weiß es nur vom Hörensagen.«
»Weswegen glaubst du, dass die Frau, die bei Broer vorstellig wurde, und die Vermisste identisch sind?«
»Broer hat behauptet, die Beschreibung von Vikki treffe auf die entsprechende Person zu. Vikkis Mitbewohnerin Meike Schröder hat bei der Vermisstenmeldung angegeben, Vikki habe zuletzt ein rotes Kleid getragen.«
Fred trank etwas Kaffee. »Es gibt viele rote Kleider.«
Femke presste die Lippen aufeinander. Verdammt, die Kollegen fühlten ihr mächtig auf den Zahn. Für einen
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