Duenenmond
behauptet hatte, könnte sie es noch als Gerücht oder Hirngespinst abtun, als Irrtum vielleicht. Aber Sönke hatte das Gleiche gesagt. Es musste wahr sein.
Jo sehnte sich nach Jan. Sie wollte sich in seinen Arm verkriechen, ihm alles erzählen und dann eine Erklärung von ihm hören, die er mit seiner klaren logischen Art sofort parat haben würde. Eine Erklärung dafür, warum das alles doch nicht wahr sein musste. Sie wusste, dass er noch im Hotel oder mit seinem Eiswagen am Strand war. Trotzdem ging sie geradewegs zu seinem Haus, begrüßte Max, der im Garten war und sich über den unerwarteten Besuch unbändig freute, und wartete den ganzen Nachmittag auf Jan. Zuerst hatte sie ein wenig schlafen wollen, konnte aber nicht. Also nahm sie sich vor, Ordnung in dem Chaos ihres Kopfes, ihrer Gedanken zuschaffen. Nur wie? Sie zwang sich, alle Fakten systematisch durchzugehen. Sofern man überhaupt von Fakten sprechen konnte. Es machte die Sache einfacher, die Gerüchte und Spekulationen zunächst einmal als Tatsachen anzunehmen. Stellte sich etwas als falsch heraus, konnte sie später noch umdenken. Also … Was wusste sie?
Ihr Vater war viele Jahre regelmäßig auf den Darß gefahren, um dort seinen Urlaub zu verbringen. Nicht nur die Malerei zog ihn auf die Insel, sondern augenscheinlich ein vollständiges Doppelleben mit einer Geliebten und einem Kind. Jo überlegte. Wie alt mochte der Sohn heute sein? Ihr wurde klar, dass sie nicht einmal wusste, wann die Reisen ihres Vaters begonnen hatten. War er schon alleine gefahren, bevor sie geboren wurde? Womöglich waren seine Liebschaft und sein Spross Teil seiner Vergangenheit, von der er sich trotz der Ehe mit Jos Mutter nie ganz trennen konnte. Das war reine Spekulation. Jo ermahnte sich zu logischem Denken und voller Konzentration. Sie wusste über ihren Halbbruder, dass er seinen Vater höchstens vier bis sechs Wochen im Jahr zu Gesicht bekommen haben konnte, ansonsten aber ohne ihn aufgewachsen war. Er musste ganz allein leben, denn seine Mutter war nicht lange nach seiner Geburt bereits gestorben. So hatte Fee Zweig es jedenfalls behauptet.
Wenn Jan nur endlich nach Hause käme!
Er war blond. Was noch? Das war schon alles. Mehr wusste sie nicht von ihm.
Jan! Der Verdacht traf sie unvorbereitet wie ein Faustschlag in den Magen. Sie stöhnte auf. Nein, das durfte nicht sein. Fee hatte von blonden Locken gesprochen. Jo sah ihn vor sich, sahsein blondes störrisches Haar, sah seine grauen Augen … die Augen ihres Vaters? Unmöglich war das nicht. Jan hatte ihr nie seinen Nachnamen genannt, nie etwas über seine Mutter erzählt und auch nicht die Identität seines Vaters preisgegeben. Nur dass der früher immerhin für einige Wochen auf dem Darß war, sich jetzt aber schon zwei oder drei Jahre nicht hatte sehen lassen, hatte er erwähnt. Wusste er, wer ihr Vater war? Jo war sich nicht sicher.
Alles konnte Zufall sein, passte jedoch auf fürchterliche Weise zusammen. Jo lief hin und her, wischte sich Schweißperlen ab, die mit einem Mal auf ihre Stirn traten. Die Luft wurde ihr knapp. Max bemerkte die Veränderung, kam zu ihr und stupste ihre Hand mit seiner Nase.
»Mach, dass das nicht wahr ist«, flüsterte sie ihm zu, als besäße er eine geheime Macht über sein Herrchen.
Sie rannte nach vorn zur Haustür, fand aber kein Schild, weder an der Klingel noch an seinem Briefkasten. »Wie bekommen die Menschen denn hier ihre Post?«, rief sie verzweifelt. Sie kannte die Antwort. Jeder kannte hier jeden. Zumindest, wenn es sich um Einheimische handelte, die auf der Halbinsel aufgewachsen waren. Und was hätte es ihr schon genutzt, seinen Namen auf einem Klingelschild zu lesen? Sie wusste ja nicht einmal, wessen Namen er trug, wie seine Mutter hieß.
Hatte sie eben noch sehnsüchtig auf ihre Uhr geschaut, war ihr Blick nun panisch. Sie wollte Jan jetzt nicht begegnen. Sie konnte nicht. Was hätte sie ihm denn sagen sollen? »Weißt du schon das Neueste? Du bist mein Bruder!« Auf keinen Fall. Sie tätschelte Max zum Abschied den Kopf und kraulte seine großen Ohren. Anschließend versicherte sie sich, dass diePforte geschlossen war, damit der Hund nicht ausbüxen konnte. Dann ging sie eilig davon, wurde immer schneller, bis sie schließlich rannte.
Sie wusste nicht, wohin. Auf der einen Seite wollte sie allein sein, auf der anderen wünschte sie, es gäbe jemanden, der ihr helfen könnte. Vielleicht gab es jemanden, schoss es ihr durch den Kopf. Jahrelang hatte
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