Duenenmond
Sie liebte ihren Job, aber diese Freiheit, völlig selbstbestimmt ohne das Diktat der Uhr den Tag zu verbringen, hatte ihre ganz eigene Qualität. Noch immer nagte ein wenig die Enttäuschung an ihr, den Eismann nicht getroffen zu haben. Morgen war ja auch noch ein Tag. Jos gute Laune überwog mit Abstand.
Aus Leibeskräften sang sie gegen das Rauschen des Wassers auf ihrem Kopf und das Prasseln der Tropfen an der Duschwand an: »I don’t want to talk about things we’ve gone through.« Ihr fielen die nächsten Zeilen nicht ein. Also summte sie weiter, ohne Worte zwar, aber mit immer mehr Gefühl. Die Duschkabine wurde zu ihrer Bühne. Dann fiel ihr der Refrain ein: »The winner takes it all«, schmetterte sie in den Wasserschwall. Den Duschkopf wie ein Mikrofon vor den Lippen, stieß sie in einer übermütigen Geste die Glastür auf.
Vor ihr stand der Eismann.
»Entschuldigung«, murmelte er. »Ich habe gerufen, aber Sie konnten mich wohl nicht hören.«
Josefine griff hinter sich, um das Wasser abzustellen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihre Nacktheit war ihr nicht halb so peinlich wie ihre Gesangsdarbietung mit Duschkopf.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte sie.
»Arbeiten.«
»Hier im Hotel?«
»Sieht fast so aus.« Er grinste hilflos und gleichzeitig amüsiert.
»Haben Sie denn einen Zwillingsbruder?«
»Nein, wieso?«
»Ich denke, Sie sind Eisverkäufer.«
»Stimmt, aber davon allein kann ich nicht leben. Noch nicht.«
Sie standen einander gegenüber. Josefine tropfend in der Dusche, er in einem blauen Overall, unter dem er anscheinend dasselbe ärmellose Shirt trug, das er neulich am Strand angehabt hatte. Während sie schwiegen, wurde Jo die Situation bewusst, in der sie sich befand. Ihm schienen die gleichen Gedanken durch den Kopf zu gehen.
»Oh, Entschuldigung, soll ich mich umdrehen?«, fragte er.
»Das fällt Ihnen ein bisschen spät ein«, antwortete sie. »Aber Sie könnten mir ein Handtuch geben.« Sie mussten lachen.
»Klar, Entschuldigung, hier.« Er reichte ihr eins von den großen Duschtüchern, in das sie sich sofort einwickelte.
»Was machen Sie konkret für einen Job?«
»Hausmeister, Elektriker, Klempner, was eben so anfällt. Ein Mann für alle Fälle sozusagen.«
»Und welchen Fall genau sollen Sie in meinem Zimmer lösen?«
»Die Dusche ist kaputt.«
Jo machte große Augen.
»Soll kaputt sein, hat man mir aufgeschrieben.« Er fischteeinen kleinen Notizblock aus der Tasche, die vorne auf dem Latz der Hose war. »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Hatten Sie sich wegen der Dusche beschwert?«
»Nein, alles in Ordnung.«
»Hm.« Er legte einen Finger an die Lippen, eine Geste, die Jo an Laientheater erinnerte. Er starrte auf das Papier in seiner Hand, auf dem, wenn sie es richtig sah, höchstens drei oder vier Worte und ihre Zimmernummer standen. Er musste das bereits auswendig aufsagen können. Entweder war dieser Mann für alle Fälle viel unsicherer, als sie am Anfang angenommen hatte, oder genau das war seine Masche, und er spielte ihr etwas vor.
»Tja, dann haben Sie wohl eine falsche Information bekommen«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Scheint so.« Endlich konnte er sich von den Worten auf dem Notizblock lösen und steckte ihn wieder ein. »Dann gehe ich mal wieder.«
»Und? Was ist mit einer kleinen Entschädigung für den Schock?«
»Um ehrlich zu sein … Ich habe gerufen, damit Sie sich nicht erschrecken. Ich dachte, wenn Sie das Wasser abdrehen, rufe ich gleich noch mal. Dann hätten Sie das bestimmt gehört. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie bei laufendem Wasser und mitten in Ihrem Gesang aus der Dusche springen.«
»Ich bin nicht gesprungen«, stellte Jo richtig und spürte, wie sie bei der Erinnerung rot wurde.
»Sie haben übrigens eine hübsche Stimme.«
»Danke schön.«
»Okay, wären Sie damit einverstanden, wenn ich Sie morgenAbend so um sechs Uhr abhole? Dann zeige ich Ihnen etwas, das die wenigsten Urlauber zu sehen kriegen.«
»Klingt gut.«
»Okay, dann bis morgen.« Seine Augen blitzten vor Freude.
Josefine sah ihm nach. Seine nackten Füße steckten in Sandalen, die Hosenbeine waren ein bisschen schief bis kurz unter das Knie aufgekrempelt. Er hatte ebenso kräftige Waden wie Oberarme. Was das wohl sein würde, was die wenigsten Urlauber zu sehen bekamen? Sie hätte wetten können, dass er es schon vielen Urlauberinnen gezeigt hatte.
Der nächste Tag brachte einen leichten erfrischenden Wind, der
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