Duenenmond
gesetzten Buhnen, auf denensich, wenn die Touristen ihre Unterkünfte aufsuchten und Ruhe einkehrte, wieder die Möwen tummelten und nach Beute Ausschau hielten, und auf das blau-graue Meer, das in der Sonne glitzerte. Während sie eilig duschte und sich dann in Bikini und Bademantel hüllte, dachte sie voller Stolz über das nach, was sie in ihrem Leben erreicht hatte. Sie war noch nicht einmal dreißig, hatte einen Silbernen Nagel des Art Directors Club verliehen bekommen, was in der Branche gewissermaßen als Ritterschlag galt, und würde nach dem Urlaub als Brand Managerin mit beachtlichem Budget und mindestens ebenso großer Verantwortung anfangen. Sie wohnte in einer ruhigen kleinen Straße mitten in Hamburg in einer großzügigen Altbauwohnung, die sie in einigen Jahren kaufen wollte. Was noch hätte sie sich wünschen können?
Zwei Stunden später schlenderte sie die Dorfstraße entlang. Ihre Haut war noch ölig von der hawaiianischen Massage, ihre Schultern und ihr Nacken fühlten sich so leicht an wie seit Jahren nicht mehr. Immer wieder ließ sie ein wenig den Kopf kreisen und stellte überrascht fest, dass nichts mehr knirschte, blockierte oder schmerzte.
»Der Rücken ist der Sitz der Vergangenheit«, hatte die Masseurin gesagt. So ein Unsinn! Er war der Sitz der Schreibtischarbeit, der vielen Stunden vor dem Computer oder an den Tischen der Grafiker, über Entwürfe gebeugt. Josefine scherte sich aber nicht um solches Gerede, solange die Behandlung, für die sie nicht wenig Geld hatte auf den Tisch legen müssen, nur effektiv war. Nun war sie auf der Suche nach einem schicken Restaurant, in dem sie zu Abend essen würde. Statt jedoch Speisekarten zu studieren, fand sie sich immer öfter vorden Schaufenstern der Galerien und kleinen Läden wieder, in denen Ahrenshooper Künstler ihre Bilder anboten. Sie betrachtete die kleinen und großen Werke in Öl oder Acryl. Sie zeigten Rohrdachhäuser, Kraniche über dem Bodden und im Schilf, bedrohlich über die Buhnen brandende Wellen, die Steilküste leuchtend orange angestrahlt und natürlich immer wieder Sonnenuntergänge. Traditionelle Zeesenboote vor Sonnenuntergang, Sonnenuntergang über der Ostsee, Reetdachhaus vor Sonnenuntergang.
Jo konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. Herrgott, wie kitschig! Da waren ja die Bilder ihres Vaters noch besser. Nun hatte er sich also doch in ihre Gedanken geschlichen. Das hatte ja so kommen müssen. Jedes Jahr war er vier und manchmal sogar sechs Wochen hierhergekommen, um zu malen. Immer allein, immer ohne Josefine und ihre Mutter. Jos Vater war Grafikdesigner gewesen. Die Landschaftsmalerei war sein Hobby, sein Ausgleich. Er liebte seine Familie, sein Leben in Hamburg. Das hatte er jedenfalls immer behauptet. Aber einmal im Jahr brauche doch jeder eine Zeit ganz für sich allein. Mit Frau und Kind hätte er sich nicht auf seine Bilder konzentrieren können, war sein ständig wiederkehrendes Argument gewesen, wenn es alljährlich darum gegangen war, doch endlich einen Familienurlaub zu verbringen. Josefines Mutter hatte darum gekämpft, jedes Jahr aufs Neue. O nein, sie hatte niemals aufgegeben. Doch genutzt hatte es nichts. Im Frühling oder Spätsommer packte er seine Sachen, seine Pinsel und Farben, seine verkrustete Palette und die bekleckste Staffelei und machte sich auf den Weg nach Ahrenshoop. Noch heute schnürte es Jo die Kehle zu, wenn siesich an die Wut, an die grenzenlose Enttäuschung erinnerte, die sie als Kind und später als Teenager empfunden hatte. Als Studentin wollte sie allein oder mit Freunden verreisen. Trotzdem kam die Auseinandersetzung jedes Jahr wieder, wie nach der Ebbe die Flut kommt. Jo kämpfte nun für ihre Mutter, die sich weiß Gott gut allein beschäftigen konnte. Er hätte alle Zeit der Welt gehabt, um ungestört zu malen, hätte danach ein paar kostbare Stunden mit seiner Frau verbringen können. Was war das für eine Ehe, wenn man diese besondere Zeit im Jahr, diese ganz besondere Zuneigung zu der Halbinsel nicht miteinander teilte? Josefines Vater war stur geblieben, ihre Mutter kämpferisch, irgendwann aber auch immer trauriger. Und dann war der Krebs gekommen, und der Vater hatte nicht mehr reisen können.
Jo schüttelte den Gedanken an ihn ab, betrat das nächstbeste Restaurant und beschloss, die kommende Nacht zum Tag zu machen. Wäre doch gelacht, wenn es hier nicht irgendwo eine Musikbar gäbe, in der man Spaß haben konnte.
Die Sonne stand bereits hoch
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