Duenenmord
Wette eingegangen, dass er an das kleine Mädchen dachte und die so häufig unterschätzte Gefahr, die an den Steilküsten herrschte. »Wenn wir das in Erfahrung gebracht haben, dürften wir ein ganzes Stück vorangekommen sein«, meinte sie.
Das Ehepaar Sänger wohnte in einem Einfamilienhaus in schönster Ortsrandlage, abseits der L 301, mit freiem Blick über Felder und Wiesen, die in frostiger Stille verharrten. Michael Sänger war ein großer, massiger Mann Ende fünfzig, dessen volles Haar stark ergraut war. Unter anderen Umständen hätte er wohl ein freundliches Begrüßungslächeln parat gehabt. Nun aber streifte sein fragender Blick Romy nur flüchtig und blieb an Kasper hängen, bevor er die beiden Beamten hereinbat und ins Wohnzimmer führte. Er erwartete keine guten Nachrichten – jedenfalls nichts, was man an der Haustür besprach.
Romy hatte während der Fahrt nach Bergen mit Max telefoniert, der ihr auf die Schnelle ein paar allgemeine Informationen durchgegeben hatte. Monika Sänger hatte eine Kindertagesstätte geleitet, ihr Mann war Lehrer am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Bergen. Nicht auszuschließen, dass Kasper, dessen Ex-Frau auch dort unterrichtet hatte, und er sich kannten oder zumindest mal über den Weg gelaufenwaren. Für beide Sängers war es die zweite Ehe. Michael hatte mit seiner ersten Frau, die früh verstorben war, eine Tochter, Lotte, zweiundzwanzig Jahre alt.
Michael Sänger war mitten im Raum stehen geblieben und breitete kurz die Arme aus. »Möchten Sie sich setzen?« Erneut traf Romy lediglich ein Seitenblick.
»Ja, gerne«, ergriff sie das Wort.
Er wies auf eine Essecke, hinter der eine offene Durchreiche zur Küche zu sehen war. Auf dem Tisch stand eine Kanne Kaffee, im offenen Kaminofen am anderen Ende des Raumes züngelte ein Feuer, Scheite knackten. Es hätte gemütlich sein können.
Kasper räusperte sich umständlich, als er Platz genommen hatte. »Sie haben Ihre Frau gestern Abend vermisst gemeldet, Herr Sänger.«
»Ja, habe ich. Sie wollte eigentlich gegen acht, spätestens neun zu Hause sein. Ich habe mir erst nichts dabei gedacht, aber als sie um zehn nicht zurück war und ich sie über ihr Handy auch nicht erreichen konnte, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Bei dem Wetter hätte sie einen Unfall haben können.« Er legte die Hände auf den Tisch – klobige Hände, die den massigen Eindruck des Mannes unterstrichen. Die Fingerspitzen zitterten. Er verschränkte sie, als er Romys Blick bemerkte. »Haben Sie Neuigkeiten?« Die Frage quälte sich aus seinem Mund.
Kasper nickte. »Wir sind ziemlich sicher, dass wir Ihre Frau gefunden haben«, erwiderte er leise.
»Ziemlich sicher«, wiederholte Sänger leise. »Sie ist tot, nicht wahr?«
Kasper zog sein Handy aus der Jackentasche, und Romy hoffte inständig, dass die Aufnahme so wenig wie möglich von den grausamen Verletzungen zeigte. »Ich kann Ihnen das nicht ersparen – würden Sie sich bitte diese Bilder ansehen?«
Sänger atmete tief ein und beugte sich übers Display. SeineFrau war im Dreiviertelprofil erfasst, das ihre linke Gesichtshälfte, die weniger stark betroffen war, in den Vordergrund rückte. Es war keine Nahaufnahme, wie Romy augenblicklich erleichtert feststellte, außerdem wies sie Unschärfen auf. Die dunkelroten Locken fielen am deutlichsten ins Auge. Romy registrierte sie erst jetzt bewusst. Weitere Fotos zeigten aus noch größerem Abstand die Gestalt der Frau, ihre Kleidung und Schuhe sowie das Auto. Kasper war es gelungen, beim Fotografieren das brutale Geschehen weitestgehend in den Hintergrund zu drängen.
Michael Sänger starrte einen Moment stumm aufs Handy. »Das ist sie«, sagte er plötzlich. »Ja, natürlich ist sie das! Es gibt keinen Zweifel. Die Jacke, die Stiefel – sie hat sie noch morgens eingewachst, auch meine und die von Lotte, sogar unsere Handschuhe«, fuhr er eilig fort. »Wenn erst mal Feuchtigkeit ins Material eingedrungen ist, halten das die teuersten Stiefel nicht aus, hat sie immer gesagt, und der Winter fängt ja gerade erst an. Und damit hat sie recht, nicht wahr?« Sänger starrte erneut aufs Display, atmete schwer. »Was ist passiert?«, flüsterte er plötzlich.
»Wir wissen es noch nicht genau …«
Der Witwer sprang abrupt auf. Er stellte sich hinter seinen Stuhl, stützte sich mit beiden Händen an der Rückenlehne ab und beugte den Kopf zum Fußboden. Als würde er sich für einen langen Lauf die Achillessehne dehnen wollen, schoss es Romy
Weitere Kostenlose Bücher