Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
hatte. Obwohl … wenn man dem Oberarzt glauben durfte, war sie ja keinen Moment in Gefahr gewesen.
»Danke, dass du mich nach Hause fährst, Tom. Und dass du Felix gleich mitgebracht hast.« Sie betrachtete ihr Kind, das friedlich schlummernd in seinem Autositz saß. Felix hing vollkommen entspannt in den Gurten, den Kopf seitlich gegen die Kopfstütze gelehnt und ein feines Spuckebläschen im Mundwinkel. Pia strich über seine weiche, gerundete Wange. Die Angst, ihn niemals wiederzusehen, verursachte ihr auch nachträglich noch ein flaues Gefühl im Magen.
»Kein Problem. Deine Tagesmutter hat mir ja geglaubt, dass wir Geschwister sind. Irgendeine Familienähnlichkeit muss es also doch geben.« Er grinste andeutungsweise. Pia war blond, hatte graublaue Augen und blasse Haut. Tom und seine Zwillingsschwester Nele waren braunhaarig, mit braunen Augen und weniger hochgewachsen als sie.
Pia hatte Fiona vom Krankenhaus aus angerufen und ihr angekündigt, dass ihr Bruder Felix abholen würde. Es war spät genug geworden. Aber sie musste wohl froh sein, dass sie überhaupt noch dazu in der Lage war, sich um ihr Kind zu kümmern.
»Wie geht’s dir jetzt?«, wollte Tom wissen.
Als sie entlassen worden war, war Pia noch weich in den Knien gewesen. Ein paar leichte Prellungen waren die einzig sichtbaren Spuren, die sie davongetragen hatte. Mittlerweile fühlte sie sich ziemlich kaputt – und erleichtert. »Ganz gut. Der Arzt meinte, dass keine Spätschäden zu erwarten sind.« Ihr Lächeln geriet ihr etwas schief. »Das Zeug, das mir da verpasst worden ist, ist relativ harmlos … auch für Menschen.«
»Hab ich das richtig verstanden? Der Typ, den ihr verfolgt habt, hat dir ein Medikament für Tiere in den Hals gespritzt?!«
»Ja. Stresnil. Es wird normalerweise bei Schweinen angewendet.«
»Bescheuert. Was sollte das?«
»Es ist kompliziert.« Pia starrte einen Moment aus dem Fenster. » Er wollte provozieren, dass meine Kollegen ihn erschießen. Jedenfalls wollte er um keinen Preis der Welt ins Gefängnis gehen. Er wusste nur nicht, dass wir nicht immer gleich einen Scharfschützen zur Hand haben.« Über Enno von Alsens tragischen Tod wollte sie jetzt nicht reden. Sie hatte es selbst eben erst erfahren.
»Und was bewirkt dieses Stresnil?«
»Es ist ein Sedativ. Der Arzt, der mich behandelt hat, hat es mir erklärt: Es wird Schweinen gespritzt, wenn sie mit anderen zusammen in eine neue Box verlegt werden. Nach einer Dosis Stresnil schlafen sie erst mal und nehmen dabei den Geruch der anderen an. Dadurch bekämpfen sie sich nicht, wenn sie aufwachen. Man benutzt es auch bei Muttersauen, damit sie direkt nach der Geburt nicht ihre Ferkel auffressen.«
»Reizend«, sagte Tom.
»Nicht wahr?« Pia dachte an die Witze, die sich einem bei ihrer außergewöhnlichen Erfahrung mit Stresnil geradezu aufdrängten. »Der Typ, den wir verfolgt haben, war Tierarzt von Beruf. Er hatte das Medikament wohl gerade zur Hand. Bei Menschen wirkt Stresnil genauso wie bei Schweinen. Ich habe einfach zwei Stunden fest geschlafen.« Aber vorher dachte ich, ich würde sterben, setzte sie in Gedanken hinzu. Dass von Alsen ihr gesagt hatte, er hätte Kaliumchlorid in die Spritze gezogen, musste ihr Bruder nicht wissen.
Sie hatten Glück, dass sie direkt vor dem Rohwedders Gang eine Parklücke fanden. Tom trug Felix samt seiner Sachen nach oben. Pia folgte ihm. Oben angekommen, merkte sie, wie schlapp sie war. Der Schock, vielleicht auch die Prellungen oder die Nachwirkungen des Medikaments.
Sie ließ sich auf ihr Sofa fallen und schmuste eine Weile mit ihrem Sohn, während Tom sich in der Küche an einem verspäteten Abendbrot versuchte. Mehrmals kam er ins Wohnzimmer und fragte Pia, wo sie dies oder jenes aufbewahre. Pia gab Felix seinen Abendbrei und aß dann, mit ihrem Kind auf dem Schoß, mit Tom zusammen Brote mit Tomaten und Spiegeleiern.
»Das hat doch unsere Mutter schon gezaubert, wenn wir uns beim Spielen die Knie aufgeschlagen haben«, meinte Tom, als er die Spiegeleier aus der Pfanne auf die Teller gleiten ließ.
»Das nannte sich ›ein tröstliches Abendbrot‹«, sagte Pia. Der Anblick und Geruch dieses Essens gab ihr kurz das Gefühl, wieder acht Jahre alt zu sein. Als sie gegessen hatten, nahm Tom Felix auf den Arm, damit Pia unter die Dusche gehen konnte.
Sie zog sich vorsichtig den Pulli über den Kopf. »Willst du wirklich noch bleiben?«, fragte sie. »Ich komme jetzt allein klar. Marlene und die Kinder warten
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