Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
schlagen auf. Tiere und zum Tode Verurteilte werden vor der Injektion narkotisiert, um ihnen die Qualen zu ersparen. Bei Ihnen ist mir das leider nicht möglich.«
Er sprach eher zu den Beamten an den Streifenwagen als zu ihr. Was hatte er vor? Es war ein Leichtes für ihn, zuzustechen, den Kolben der Spritze reinzudrücken und ihr das Kaliumchlorid zu injizieren, bevor sich einer der Beamten auch nur nähern konnte. Und aus dieser Entfernung mit einer Pistole auf von Alsen zu schießen, war das reinste Glücksspiel. Dazu bräuchte man einen Scharfschützen mit einem Gewehr. Und wenn von Alsen es nun genau darauf anlegte? Wollte er, dass man ihn erschoss? In diesem Fall würde er die Bedrohung für sie noch weiter steigern.
»Rauf auf die Brüstung«, befahl von Alsen, als hätte er ihre Gedanken erraten. Er stand so stark unter Stress, dass seine Stimme schrill klang.
»Nein«, sagte Pia. »Nehmen Sie die Spritze weg und lassen Sie uns darüber reden.« Niemals, dachte sie, niemals würde sie auf diese Brüstung klettern.
»Worüber reden? Ich gehe nicht ins Gefängnis!«, höhnte er. Sein Blick huschte von ihr zu den Streifenwagen und wieder zurück. Auf Lessing, der sich schräg hinter ihnen befand, achtete er nicht.
Enno von Alsen stieß Pia gegen die Brüstung, und die Nadel entfernte sich ein paar Zentimeter von ihrem Hals. Lessing war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Pia wich zur Seite aus und versuchte, von Alsens Hand mit der Spritze zu fassen zu bekommen. Doch der Mann reagierte schneller, als sie gedacht hatte. Zudem hatte er mehr Kraft im Arm als sie. Aus dem Augenwinkel sah Pia, wie mehrere Uniformierte auf sie zurannten. In dem Moment riss von Alsen so heftig an ihr, dass sie stürzte. Ihr Kopf prallte auf den Boden, und sie blieb benommen liegen.
»Zurück!«, schrie er. »Ich töte sie, wenn jemand näher kommt!« Er beugte sich über sie, und sie fühlte die Nadel in ihre Haut eindringen. Einen kurzen Moment lang war nichts mehr zu hören als das Heulen des Windes. Dann erklang ein Schuss, kurz darauf ein zweiter. Enno von Alsen sog scharf die Luft ein.
Pia spürte einen schmerzhaften Stich am Hals und dann eine kalte Flüssigkeit, die in sie drang. In Todesangst stieß sie von Alsen von sich weg und kam wieder auf die Füße. Sie taumelte und hielt sich am Geländer fest, während von Alsen vor ihr zurückzuweichen schien. Wie durch einen Gaze-Schleier sah sie die uniformierten Kollegen näher kommen. Pia fasste sich an den Hals. Es fühlte sich an wie der Stich einer Wespe. Sie sah die Spritze am Boden liegen. Es war noch etwas klare Flüssigkeit im Kolben, aber sie wusste nicht, wie viel ursprünglich darin gewesen war. Dann verschwamm die Kanüle vor ihren Augen. Ihr Blickfeld verengte sich. Panisch merkte sie, dass sie nicht mehr fokussieren konnte. Kaliumchlorid! Was für eine Menge war in ihren Blutkreislauf gelangt? Sie konzentrierte sich auf ihren Herzschlag, aber ihr Atem ging zu heftig. War da ein Brennen in den Adern? Gab es ein Gegenmittel? Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Die Brücke begann, unter ihren Füßen zu schwanken. Sie sah den blauen Nachmittagshimmel, zerteilt von den Stahlseilen, die die Brückenkonstruktion hielten. Sie liefen in wunderbarer Ordnung auf einen Fluchtpunkt zu, der hoch über ihr am Brückenbogen lag. Das sollte sie mal zeichnen. Doch die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern. War das ihr Leben gewesen? Würde sie hier und heute sterben? Felix … Er war noch so klein! Er brauchte sie doch! Was sollte aus ihm werden? Eine tiefe Traurigkeit schien ihr die Luft abzuschnüren. Es fühlte sich so an, als könnte sie ihre Arme und Beine nicht mehr richtig bewegen.
Sie war müde, so müde. Die Stahlseile über ihrem Kopf vibrierten, tanzten vor ihren Augen. Jemand schüttelte sie. Pia hörte ihren Namen, aber sie konnte nicht antworten. Das Letzte, was sie mitbekam, war, dass ihr seltsamerweise der Himmel entgegenkam.
27. Kapitel
W o ist dein Stolz geblieben, Nadja Glebowna?« Oxana stand vor dem Doppelbett. Ihre Freundin lag auf der zerwühlten Überdecke, das Gesicht verquollen, ihre blondierten Haare sahen aus wie das Zeug, mit dem man früher Wasserrohre abgedichtet hatte. Nadja trug einen zerknitterten, nicht ganz sauberen Morgenmantel. Dabei war es schon nach zwei Uhr am Mittag.
»Hau ab, Oxana! Du verstehst das nicht!«
»Oh, ich verstehe sehr gut. Du hast dich wieder mit Vadim eingelassen, nicht wahr? Dabei haben wir das doch schon
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